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Die Erinnerung ließ ihn versonnen lächeln. „Sie hat nach dem Tod meiner Großeltern deren Schafzucht übernommen und führt sie bis heute, obwohl sie schon weit über neunzig ist. Aber sie ist keinesfalls eine provinzielle Schaffarmerin, ganz im Gegenteil. Sie ist unheimlich belesen und für ihre scharfe Zunge berühmt. Wäre sie sieben-, achthundert Jahre eher geboren worden, hätte sie sicher an der Seite von Robert the Bruce den Freiheitskampf der Schotten gegen die Engländer geführt. Immerhin hat sie jahrelang beim Kampf für ein eigenes schottisches Parlament mitgewirkt und wäre 1999, als dann die ersten Regionalwahlen stattfanden, sogar um ein Haar als Abgeordnete gewählt worden.“ Bonnie staunte.

„Damals muss sie ja auch schon gut über achtzig gewesen sein. Donnerwetter.“ John grinste.

„Ja, und ich denke, dass sie in Edinburgh für ganz schönen Wirbel gesorgt hätte.“ Er nahm einen Bissen von dem nach Ingwer und Kokos duftenden Gemüse.

„Sie hat es meinem Vater lange nicht verziehen, dass er nach London gegangen ist und dann auch noch eine Engländerin geheiratet hat. Meine Mutter, die auch nicht auf den Mund gefallen ist, und Tante Isabel haben sich bei den jährlichen Familientreffen manchmal legendäre Wortgefechte geliefert. Das Feuerwerk, das die beiden abbrannten, war für meine Geschwister und mich immer das einzig Unterhaltsame an diesen Haggisessen. Mein jüngerer Bruder David musste stets ein Stück auf dem Dudelsack vorspielen und Maggie – meine Schwester – oder ich mussten die „Ode an den Haggis“ von Robert Burns vortragen. Dann wurde der prall gefüllte Schafsmagen aufgeschnitten und die ganze Pampe aus Innereien und Hafergrütze quoll heraus.“ Er verzog das Gesicht. „Es ist ein Glück, dass wir immer mehrere Hunde hatten, denen ich meine Portion möglichst diskret zukommen lassen konnte.

Eines Tages, ich muss ungefähr vierzehn Jahre alt gewesen sein, hatte ich unserer Hündin Bess wohl zu viel zugeschoben. Unter dem Tisch waren plötzlich würgende Geräusche zu hören. Bess war eine gute Menschenkennerin. Sie hat sich genau über die maßgefertigten Wildlederschuhe meines nervtötenden jüngeren Cousins übergeben.“ Er konnte Simons über die Maßen entsetztes Gesicht immer noch vor sich sehen.

Der Gedanke an Simon Whittington brachte ihn schlagartig in die Gegenwart zurück. Er schob seinen Teller von sich.

„Bonnie, ich bin sehr dankbar, dass Sie mir bei diesen Ermittlungen helfen. Können Sie mir etwas über die Angehörigen unserer Männer erzählen, die im Tower leben?“ Bonnie grinste ihn an und zog schwungvoll ein gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche.

„Ich habe Ihnen hier schon mal eine Aufstellung aller Beefeater mit ihren Familienangehörigen gemacht. Und ich habe auch schon eine Idee, wo Sie mit ihren Nachforschungen ansetzen können.“ Beeindruckt blickte John auf die Auflistung. Methodisch hatte Bonnie Namen und Alter aller im Tower Lebenden verzeichnet.

„Mrs. Dunders leitet eine Frauengruppe, die bei ihren wöchentlichen Treffen allerlei Sachen herstellt, die dann für wohltätige Zwecke verkauft werden. Bestimmt hat sie Sie auch schon einmal zu einem Kauf überredet?“ John blickte bedeutungsvoll auf ein grünes Kissen, das mit dem leuchtend roten Schriftzug „Home, sweet home“ bestickt war.

„Mhm. Gleich nach meinem Einzug war sie einmal hier. Sie ist wirklich sehr … überzeugend.“

„Das ist sie. Bis auf zwei, drei Ausnahmen hat sie es in all den Jahren auch geschafft, alle hier lebenden Frauen für die Gruppe zu engagieren. Sie treffen sich jeden Dienstagabend in einem Nebenzimmer unserer Cafeteria.“ Aufgeregt lehnte John sich nach vorn.

„Dann waren die Frauen am Mordabend zusammen?“ Bonnie lächelte spitzbübisch.

„Nicht nur die Frauen. Etliche der Männer versammeln sich gleichzeitig im Schulungsraum, um auf dem großen Bildschirm dort das Dienstagsspiel der Premier League anzusehen. Chief Mullins ist meistens auch dabei.“

„Aber natürlich! Ich bin schon einige Male gefragt worden, ob ich nicht bei so einem Abend dabei sein möchte. Bis jetzt bin ich aber nie hingegangen. Fußball interessiert mich eigentlich nicht und feuchtfröhliche Gelage sind schon gar nicht mein Ding.“ Bonnie bedachte ihn mit einem amüsierten Blick.

„John, Sie sind wirklich ein untypisches Exemplar eines englischen Mannes!“

Nachdem Bonnie gegangen war, machte John sich auf, um Edwina Dunders einen Besuch abzustatten. Bonnie hatte ihm gesagt, dass die Frauengruppe momentan mit der Herstellung von Weihnachtsdekorationen beschäftigt war. Also hatte John seinen Geldbeutel eingesteckt. Er hatte ohnehin vorgehabt, ein paar hübsche Weihnachtssachen zu erstehen, um seine Wohnung zu schmücken und mit der Aussicht auf einige Einnahmen wäre Mrs. Dunders sicher zu einem kleinen Schwatz bereit.

Dieser Plan ging voll auf. Mit einem entzückten „Oh bitte, nennen Sie mich Edwina“ hatte sie John hereingebeten, ihn zu einer Tasse Tee und frisch gebackenen Keksen eingeladen und eilfertig Körbe voller Dekorationen aus einem Hinterzimmer der Wohnung herangeschleppt. Als John den zarten Schmelz der Kekse lobte und mit einem gewinnenden Lächeln um einen Nachschlag bat, schmolz sie sichtlich dahin. Sie setzte sich zu ihm und schenkte sich ebenfalls eine Tasse ein.

„Ach, wie schön, wenn mein Selbstgebackenes so geschätzt wird. Mein Philipp, wissen Sie, ist nämlich zuckerkrank, seit etlichen Jahren schon. Er muss immer aufpassen, was er zu sich nimmt, und so kann er meine guten Kekse kaum noch genießen. Nun esse ich die meisten davon selbst.“ Sie schaute verschämt an ihrer molligen Figur hinunter.

„Aber Mrs. Dunders – Edwina – eine Frau wie Sie, die solche Köstlichkeiten zaubern kann, hat es sich doch auch verdient, sie zu probieren. Zumal sie offensichtlich kaum anschlagen.“, erwiderte John galant. Sichtlich geschmeichelt zog Edwina einen der Körbe heran und begann, Weihnachtsschmuck aller Art auf dem Tisch auszubreiten.

„Wir arbeiten gerade mit Hochdruck an der Vorbereitung unseres Weihnachtsbasars. Es ist noch so viel zu tun. Nächste Woche werden wir im Innenhof einige Stände aufbauen und dort die Sachen verkaufen. Auch unser Chor wird singen. Da wir für das St. Bartholomew´s Krankenhaus spenden, wird der dortige Chefarzt die Eröffnungsansprache halten. Ein kleiner Teil wird auch für unsere Raben zur Verfügung gestellt, um die Voliere noch besser auszustatten und die Futterkosten zu decken. Deshalb wird auch unser Ravenmaster ein paar Worte sagen.“

Während Edwina weiterschwatzte, besah sich John das vielfältige Angebot. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass viele geschmackvolle und schön gearbeitete Figuren dabei waren.

„Mein Kompliment, Edwina. Ihre Gruppe leistet ja hervorragende Arbeit. Durch Ihren Einsatz konnten Sie über die Jahre sicher viele Gelder für wohltätige Zwecke zur Verfügung stellen.“

„Allein im letzten Jahr waren es über fünftausend Pfund. Warten Sie, ich zeige Ihnen meine Sammlung.“ Edwina holte ein Album, in das sie fein säuberlich Zeitungsausschnitte eingeklebt hatte. Alle zeigten sie selbst, wie sie Schecks an diverse Organisationen überreichte. Die ersten Artikel waren über zehn Jahre alt. John äußerte seine ehrliche Bewunderung über ihr langjähriges Engagement und erkundigte sich dann beiläufig, „Sind Ihre Mitstreiterinnen auch schon so lange dabei?“

„Viele von ihnen. Ich spreche alle Frauen an, die mit ihren Männern hier im Tower leben und fast alle beteiligen sich auch.“ Sie rümpfte ein wenig die Nase. „Nur ganz wenige haben sich über die Jahre geweigert, unseren guten Zweck zu unterstützen. Von der momentanen Besatzung sind eigentlich alle dabei. Allerdings konnte sich Ellinor Burns nach ihrem Herzinfarkt die letzten Monate nicht mehr beteiligen und Rachel Armstrong macht ihr Rheuma so zu schaffen, dass sie kaum noch etwas mit den Händen arbeiten kann. Jaja, wir werden alle alt.“ Sie seufzte ein wenig, dann hellte ihr Gesicht sich auf und sie blätterte ans Ende des Albums.