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Er verstummte. Gespannt wartete John darauf, dass Mullins weitersprach. „Was ich Ihnen jetzt sage, bleibt aber unter uns, Mackenzie.“ John lächelte den Kommandanten milde an.

„Sir, in meinem Beruf wird einem Verschwiegenheit zur zweiten Natur.“

„Ach ja, natürlich. Ihr Seelenklempner seid ja wie Ärzte.“ Dann erhellte sich Mullins´ Gesicht. „Was ich Ihnen erzählen will, fällt sowieso in Ihr Fachgebiet. Also, Marcia…“ Der Chief stand auf, ging zum Fenster und starrte in den Hof hinaus.

„Als die Campbells vor gut zwanzig Jahren hierher kamen – damals war ich selbst noch nicht hier – war Richard gerade ein Teenager. Er war ein schwieriges Kind, eigensinnig und wild. Er hat grundsätzlich nur das getan, was ihm Spaß machte. Regeln waren für ihn da, um gebrochen zu werden. Auch hier hat er sich einige grobe Schnitzer geleistet. George war es immer unsagbar peinlich, wenn der Junge wieder unangenehm auffiel. Marcia aber stärkte Richard immer den Rücken und verteidigte ihn vehement. Er war – und ist – ihr Goldstück, sie hat seine Fehler und Schwächen noch nie erkennen wollen. Auch wenn er Schäden anrichtete, bezahlte sie immer klaglos alles. So bekam der Junge kaum einmal die Konsequenzen seines Tuns zu spüren.“

Mullins drehte sich wieder um und lehnte sich an die Fensterbank.

„Irgendwann wurde klar, dass Richard die Schule auf diese Art und Weise nicht schaffen würde, da ihm alles andere wichtiger war als das Lernen. Da ließ sich Marcia endlich vom damaligen Kommandanten und von George davon überzeugen, ihn in ein Internat zu stecken, das für seine Strenge berühmt ist. Obwohl der Anfang natürlich schwierig war, war diese Entscheidung für den Jungen ein Gottesgeschenk. Nur die Erziehung dort hat ihm ermöglicht, sich zu dem Mann zu entwickeln, der er jetzt ist.“

Nun umspielte ein amüsiertes Lächeln sein Gesicht.

„Als Politiker vertritt Richard ja erzkonservative Werte und er ist ein ausgeprägter Law and Order-Typ. Manchmal frage ich mich, ob er sich wirklich so grundlegend geändert hat im Vergleich zu seinen jungen Jahren oder ob er nur einfach die Parolen von sich gibt, von denen er sich den größten Anklang bei den Wählern erhofft.“

John nickte.

„Na, wie dem auch sei. Ich wollte Ihnen ja eigentlich von Marcia erzählen. Als Richard ins Internat kam, war es, als hätte man ihr ihren ganzen Lebensinhalt weggenommen. George hat mir erzählt, dass sie viel weinte und ihm auch immer wieder Vorwürfe machte, er hätte ihr ihren Sohn weggenommen. Dabei war sie ja einverstanden gewesen, dass Richard ins Internat geschickt wurde. In den folgenden Monaten wurde sie immer gleichgültiger gegenüber ihrem Alltag und auch gegen George. Schließlich hatte sie nicht einmal mehr die Kraft, morgens aufzustehen und blieb den ganzen Tag im Bett. Für George war diese Zeit die Hölle.“

John lehnte sich nach vorn.

„Konnte niemand sie dazu bewegen, zu ihrem Arzt zu gehen? Sie brauchte doch dringend Hilfe in diesem Zustand.“

„Sie hat sich immer geweigert. Aber eines Tages fand George eine große Menge Schlaftabletten im Badschrank und er bekam große Angst, dass sie sich etwas antun könnte. Noch am selben Tag brachte er sie ins St. Bartholomew´s Krankenhaus.“

„Wurde die Diagnose einer Depression gestellt?“

Mullins nickte.

„Sie haben recht. Sie bekam Tabletten und war auch einige Monate lang regelmäßig bei einem Therapeuten. Seither hatte sie gelegentlich schlechte Phasen, aber nie mehr in dem Ausmaß wie damals.“

Mullins setzte sich wieder in seinen Stuhl und sah John eindringlich an.

„Auch wenn Ihnen das vielleicht merkwürdig erscheinen mag: Marcia schämt sich bis heute für ihre „Schwäche“, wie sie das sieht, und möchte unter keinen Umständen, dass Außenstehende davon erfahren. Sie hat sich sogar geweigert, sich von Doc Hunter betreuen zu lassen und sich lieber außerhalb einen Arzt gesucht.“

„Ich kann das sehr gut verstehen. Marcia stammt noch aus einer Generation, in der der Gedanke einer psychischen Erkrankung von weiten Kreisen nicht akzeptiert wurde. Männer wie Frauen hatten zu „funktionieren“ und wo dies nicht der Fall war, war schnell die Angst da, als meschugge abgestempelt zu werden.“ Nachdenklich strich John sich übers Kinn.

„Leidet Marcia tatsächlich unter Migräne? Oder liefert ihr diese nur den Vorwand, sich zurückzuziehen, wenn wieder einmal eine „schlechte Phase“ kommt?“

Chief Mullins hob anerkennend eine Augenbraue.

„Richtig. Nach außen hin bemühen sich George und Marcia gerade jetzt ganz besonders darum, eine makellose Fassade zu präsentieren. Sie bemühen sich, alles nur Menschenmögliche zu tun, um ihren Sohn bei seiner politischen Karriere zu unterstützen. Bereits früher hat Marcia die Migräne vorgeschoben und nach meiner Einschätzung könnte sie das auch am Mordabend getan haben. Wie Sie ja wissen, hatte Richard wichtige Parteifreunde eingeladen. Falls Marcia sich nicht in der Lage fühlte, ihre Rolle als perfekte Kandidaten-Mutter zu spielen, könnte die Migräne eine willkommene Entschuldigung dafür gewesen sein, dass sie bei dem Treffen im Club nicht dabei sein konnte.“

Mullins verstummte. John wusste, dass es dem Chief sehr schwer gefallen war, ihn ins Vertrauen zu ziehen, da es um die Frau eines seiner ältesten Freunde ging. Diese Offenheit rechnete er ihm hoch an.

Er zog die Liste der Verdächtigen heran und beide starrten einige Minuten lang schweigend darauf. Als es klopfte, schreckten sie hoch.

„Sir, Sie hatten mich gebeten, Sie an Ihre Verabredung mit Mr. Donahue um 12.00 Uhr zu erinnern.“ Bonnie zeigte freundlich lächelnd auf die Wanduhr über dem Schreibtisch.

„Halb zwölf schon! Ich muss los, Mackenzie.“ Sie gingen gemeinsam ins Vorzimmer hinaus. Dort warf Chief Mullins einen Blick in seinen Terminkalender.

„So ein Mist! Morgen früh muss ich zu einer wichtigen Konferenz nach Canterbury fahren. Ich komme erst am Montagabend wieder zurück. Mackenzie, wenn es etwas Dringendes gibt, wenden Sie sich an Bonnie, sie weiß, wie ich zu erreichen bin. Ansonsten sehen wir uns in vier Tagen. Bleiben Sie dran.“ Damit war er zur Tür hinaus.

John folgte ihm langsam. Im fahlen Dezembersonnenschein lenkte er seine Schritte beinahe unbewusst durch den Hauptausgang hinaus. Die wenigen Presseleute, die dort standen, hielten ihn offensichtlich für einen Touristen und ließen ihn unbehelligt passieren.

Ziellos schlenderte er die Promenade entlang bis zur Tower Bridge. Dort warb ein Zeitungsverkäufer lautstark um Kundschaft: „Tower-Mord: War die Tote eine deutsche Spionin? Warum musste sie ausgerechnet am Verrätertor sterben? Hier erfahren Sie alle Neuigkeiten zu Großbritanniens spektakulärstem Verbrechen des Jahrhunderts!“

Wider Willen musste John grinsen. Die Boulevardpresse überbot sich wie üblich gegenseitig in wilden Spekulationen. Aber vielleicht konnten die Zeitungen ja auch nützliche Informationen über die Ermittlungen der Polizei liefern. Der Superintendent hatte seine Drohung, John erneut vernehmen zu wollen, bisher nicht wahr gemacht und auch Chief Mullins erfuhr zu seinem Ärger nichts von Seiten der Metropolitan Police.

Er kramte etwas Kleingeld heraus, kaufte eine Times und einen Daily Mirror und ließ sich auf einer Sitzbank am Ufer nieder. Nachdem er jede Zeile studiert hatte, die sich mit dem Fall beschäftigte, lehnte er sich halb enttäuscht, halb schadenfroh zurück.

Scotland Yard hatte in diesem Aufsehen erregenden Fall absolute Nachrichtensperre verhängt, „um die Ermittlungen nicht zu gefährden“. Daher hatten die Reporter aus den dürren Fakten, die man ihnen mitgeteilt hatte, phantasievolle Geschichten voller Andeutungen gesponnen und die Seiten mit Fotos des Towers und des Studentenwohnheimes der Toten gefüllt. Richard Campbells Name wurde zu Johns Erstaunen nicht erwähnt. Die Information über die Anwesenheit des Jungpolitikers am Abend des Mordes im Tower war offensichtlich noch nicht nach draußen gedrungen.