„Mackenzie, es wäre dein Job gewesen, die Besuchergruppe rauszulassen. Zu allem Überfluss hab ich mich jetzt auch noch verzählt. Von den dreiundvierzig Leuten, die ich zur Schlüsselzeremonie eingelassen habe, sind sechs noch auf Einladung von Campbell im Club, also müssten siebenunddreißig hier sein. Aber es sind nur sechsunddreißig da. Conners ist jetzt mit den Leuten im Vorraum und kontrolliert noch mal.“
„Verdammt, es sind wirklich nur sechsunddreißig, Adams“, platzte Conners herein. „Das gibt’s doch gar nicht, es muss noch einer drin sein.“ Adams funkelte John an. „Wenn du pünktlich gekommen wärst, hätte ich jetzt nicht diesen Mist an der Backe.“ Er riss den Hörer vom Diensttelefon.
„Sir, wir haben hier ein Problem. Einer der Zuschauer der Schlüsselzeremonie muss sich noch auf dem Gelände befinden – “ Weiter kam er nicht. Was aus dem Hörer drang, klang für seine Kollegen wie wütendes Gebell. Michael Conners machte ein unglückliches Gesicht. „Ich kann mir das nicht erklären. Ich war doch die ganze Zeit bei ihnen, wie kann sich da einer abgesetzt haben?“, murmelte er John zu. Dieser versuchte gerade, sich zu erinnern, wie der Vorgehensplan in einem solchen Fall aussah.
In der zweimonatigen Ausbildung zum Beefeater wurde jedem Neuling für eine Vielzahl von Ausnahmesituationen beigebracht, wie zu reagieren war. „Wir müssen die Gruppe hier behalten. Mit den Daten auf den Einlassscheinen können wir feststellen, wer fehlt.“, fiel es ihm schließlich ein.
„Gut aufgepasst, Mackenzie“ unterbrach ihn Adams, der den Hörer aufgelegt hatte, spöttisch. „Wir beide kümmern uns darum und Conners stößt zum Suchtrupp, den Dunders gerade zusammenstellt.“ Er schüttelte den Kopf. „Seit wir während der Schlüsselzeremonie immer alle Toiletten verschlossen halten, hatten wir keinen solchen Vorfall mehr. Conners, du wirst dafür Rede und Antwort stehen müssen.“ Der unglückselige Beefeater zog den Kopf ein und verschwand nach draußen.
„Also los, Mackenzie, an die Arbeit. Hier ist die heutige Einlassliste. Ich besorge die Einlassscheine und du hakst ab, wer anwesend ist.“ Sie traten in den Vorraum, wo die Besuchergruppe mit zunehmendem Unmut wartete. Adams klatschte in die Hände und baute sich vor der Tür auf.
„Meine Herrschaften, bitte zeigen Sie nochmals die Einlassscheine vor. Wir müssen feststellen, wer aus der Gruppe fehlt. Wir bedauern die Umstände, müssen Sie aber noch zum Bleiben auffordern.“
„Bedauern?! Sehr wohl werden Sie das noch bedauern. Ich habe eine wichtige Verabredung und bestehe darauf, dass Sie mich und meine Mitarbeiter auf der Stelle hinauslassen. Wenn Sie so nachlässig sind, dass mitten in dieser Festung Menschen verloren gehen können – und das bei einer Veranstaltung von einer Viertelstunde – haben Sie ein echtes Sicherheitsproblem. Aber dafür können wir schließlich nichts. Also aus dem Weg.“
John sah, dass Adams während dieser in einwandfreiem Englisch, aber mit hörbarem deutschem Akzent vorgetragenen Rede die Röte in das Gesicht stieg und er sich ein wenig aufplusterte. Er befürchtete, dass die Erwiderung seines Kollegen nicht geeignet sein würde, die Situation zu beruhigen. Also legte er eine Hand warnend auf Adams´ Arm und schlug halblaut vor, „Vielleicht möchtest du die Liste kontrollieren, ich übernehme das Einsammeln der Scheine.“
„Na viel Glück dabei“. Adams nahm die Liste und verzog sich hinter den Tisch der Wachen.
John wandte sich dem renitenten Besucher zu und sprach ihn freundlich an – auf Deutsch. „Sir, ich höre, Sie haben einen wichtigen Termin?“ Der Mann stutzte und antwortete dann schon deutlich friedfertiger.
„So ist es. Als Finanzchef eines führenden deutschen Automobilherstellers“ – er wies auf das Emblem eine Nobelmarke, das er am Revers seines Jacketts trug – „gehöre ich zu einer Wirtschaftsdelegation, die sich heute Abend noch mit Ihrem Handelsminister treffen wird. Genauer gesagt, sollten wir in diesem Moment bereits im Ritz sein.“ John gab sich Mühe, beeindruckt zu wirken.
„In diesem Fall kann ich Ihre Eile gut verstehen. Umso mehr sind wir Ihnen zu Dank verpflichtet, dass Sie unsere Sicherheitskräfte in dieser Situation unterstützen. Der Minister wird dies zu schätzen wissen.“ Sein Gegenüber warf ihm einen prüfenden Blick zu. Dann verzog er den Mund zu einem halben Lächeln und wandte sich ab, um seinen Mitarbeitern Anweisungen zu erteilen. Einer seiner Untergebenen zog eilfertig den Einlassschein für die fünfköpfige Gruppe heraus und überreichte ihn John, der sich feierlich bedankte.
Die Umstehenden, die die Szene verfolgt hatten, kramten nun ebenfalls in ihren Taschen nach den Scheinen und drückten sie John in die Hand. Adams nickte ihm zu, als er den Packen entgegennahm und begann, die Liste zu kontrollieren.
In der Zwischenzeit wandte sich John erneut an die Besucher. War irgendjemandem etwas aufgefallen? Hatte einer von ihnen beobachtet, wie sich eine Person von der Gruppe entfernte? Er sah in ratlose Gesichter. Kein Wunder, dachte John bei sich, die Schlüsselzeremonie war ein fesselndes Ereignis und so war die Aufmerksamkeit der Zuschauer ganz auf das Geschehen fixiert.
Schnell hatte Adams den Namen der Vermissten herausgefunden: Julia Feldmann, 178 High Holborn, London WC1.
„Dort sind Wohnheime der Universität, vielleicht ist sie eine Austauschstudentin“, spekulierte er gerade, als im Nebenraum die Tür aufgerissen wurde.
„Adams, Mackenzie! Wir haben sie gefunden.“ Conners sah grün um die Nase aus, als er seine Kollegen hektisch herauswinkte.
„Können wir die Leute dann gehen lassen?“ wollte John wissen. „Ich fürchte nicht. Das Mädchen ist tot. Offensichtlich – “ Conners rang nach Luft, „ – ist sie ermordet worden.“
Kapitel 2
Während der nächsten Stunden kam John sich vor, als führe er Karussell. Er war zur Betreuung der Touristengruppe abkommandiert worden, bis die Metropolitan Police sie vernehmen konnte. Durch die Fenster drang das Flackern des Blaulichts, Stimmen und Geräusche ließen hektische Betriebsamkeit spüren.
Die Stimmung in der Gruppe schwankte zwischen Sensationslust – schließlich waren sie bei dem Ereignis, das die Schlagzeilen der nächsten Tage beherrschen würde, sozusagen live dabei gewesen – und dem Unwillen, in diesem beengten Raum so lange eingesperrt zu sein. John organisierte Tee und Gebäck, beschwichtigte hier und tröstete dort.
Der Deutsche – Mr. Wichtig nannte ihn John bei sich – hatte sich offensichtlich mit der Situation abgefunden und freute sich wohl schon auf die Geschichten, die er zu Hause zum Besten geben würde. Auf seine Nachfrage erklärte ihm John, dass er für einige Jahre in Deutschland stationiert gewesen sei.
„Wie kommt man von der Armee zu diesem Beefeater-Job?“
Diese Frage hatte John bei den Touristen-Führungen durch den Tower, die zu seinen Aufgaben zählten, schon unzählige Male beantwortet.
„Nach mindestens zweiundzwanzig Jahren beim Militär und nach Erreichen eines bestimmten Dienstgrades gibt es die Möglichkeit, sich hier zu bewerben. Allerdings haben nur wenige das Glück, genommen zu werden, da dies ein Job auf Lebenszeit ist und daher nur selten eine der 36 Stellen frei wird – “ Weiter kam er nicht, da mehrere Uniformierte der Londoner Polizei eintraten.
„Wir übernehmen jetzt. Sie werden draußen erwartet.“ Erleichtert verabschiedete sich John mit einem Winken von der Besuchergruppe und trat in die kalte Nachtluft hinaus. Er atmete erst einmal tief durch. Nach dem überhitzten Raum tat die beißend kalte Winterluft gut. Doch die Verschnaufpause sollte nur von kurzer Dauer sein. Ein weiterer Uniformierter trat an ihn heran.
„Sind Sie Mackenzie? Der Superintendent möchte Sie sprechen.“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und ging voran. John blieb nur, ihm zu folgen. Die Szene um ihn herum kam ihm vollkommen irreal vor. Alle verfügbaren Scheinwerfer waren eingeschaltet, um die Water Lane, den nach Sonnenuntergang sonst eher düsteren Weg entlang des Festungswalles, taghell auszuleuchten. Anstatt der sonst üblichen Touristenhorden aus aller Herren Länder hatte heute Nacht die Polizei diesen Teil des Towers schier überschwemmt.