Выбрать главу

„Was hattest du bei den Raben verloren? Das fällt doch gar nicht in deinen Aufgabenbereich, oder doch?“

„Nein“, gestand John. „Aber ich habe mich mit dem Ravenmaster angefreundet und die Tiere interessieren mich. Ich schaue oft bei ihnen vorbei, wenn ich frei habe.“

Messerscharf kam der Einwand, „Du hattest aber nicht frei, sondern hattest deinen Wachdienst anzutreten.“

John versuchte sich zu verteidigen.

„Das Gehege liegt genau auf dem Weg und zudem hätte es nicht mal eine Minute gedauert. Aber einer der Raben, Gworran, er kann Geräusche wirklich fantastisch nachahmen und ist ein sehr gelehriges Tier – “ John bemerkte den mörderischen Blick seines Cousins. „Also, Gworran wirkte sehr seltsam, er sah krank aus. Deshalb war ich ein wenig länger dort und habe überlegt, ob ich George Campbell, den Ravenmaster, benachrichtigen soll. Als ich bemerkte, dass es schon fünf nach zehn war, habe ich entschieden, ihn von der Wachstube anzurufen und bin losgelaufen. Als ich dort ankam, hatte Adams schon festgestellt, dass eine Person aus der Gruppe fehlte. Ab dem Zeitpunkt bin ich aus der Wachstube im Byward Tower nicht herausgekommen, weil ich Befehl hatte, bei der Gruppe zu bleiben.“ John atmete tief aus.

Whittington runzelte unzufrieden die Stirn.

„Dann erzähl mir etwas über die Touristengruppe. Gab es da jemanden, der dir aufgefallen ist?“ John überlegte fieberhaft. Dann schilderte er seinem Cousin die wenigen Eindrücke, die er in dem Durcheinander gewonnen hatte. Als er von Mr. Wichtig und der Handelsdelegation erzählte, erhellte sich Whittingtons Gesicht.

„Deutsche, soso. Vielleicht gibt es da eine Verbindung. Na, das finden wir schon heraus.“ Abrupt stand er auf. „Du wirst dir jetzt die Leiche ansehen. Ich will wissen, ob du das Mädchen schon einmal gesehen hast.“

Schweigend gingen sie den Weg zurück bis zum Verrätertor. Die Menge der Uniformierten teilte sich bei der Ankunft des Superintendenten respektvoll.

„Sir, wir mussten die Leiche vom Tatort entfernen. Der Wasserspiegel in der Nische stieg zu schnell. Wir bringen sie dann ins Labor der Spurensicherung, wenn Sie einverstanden sind.“

„Einen Moment noch. Ich möchte, dass Mr. Mackenzie hier noch einen Blick auf die Tote wirft.“

Als John im grellen Scheinwerferlicht wenige Schritte von der Toten entfernt stand, nahm er ein allzu vertrautes Brausen, Klingeln, Kreischen wahr. Diesen entsetzlichen Lärm in seinem Kopf, der ihm über Monate das Leben zur Hölle gemacht hatte. Nein!, schrie es in ihm. Alles, nur das nicht.

Durch den Lärm drang die Stimme seines Cousins an sein Ohr, der ihn scharf beobachtete.

„Ist dir die Tote bekannt, John?“ John schüttelte stumm den Kopf. Nein, er war sich sicher, diese junge Frau mit den glatten blonden Haaren, deren Finger sich im Todeskampf in den braunen Schal verkrallt hatten, der unbarmherzig eng und immer enger gezogen worden war, noch nie gesehen zu haben.

Er atmete bewusst ein und wieder aus und zwang sich, sich auf Einzelheiten zu konzentrieren. Braune Winterstiefel, Jeans und eine wattierte Jacke. Soweit sich das noch beurteilen ließ, ebenmäßige Gesichtszüge und sorgfältig gezupfte Augenbrauen. Als sein Blick weiter wanderte, bemerkte er, dass die Schnalle des kleinen Rucksacks, der neben ihr lag, offen stand. Ob sie ihn wohl gerade geöffnet hatte, als sie angegriffen worden war? Oder hatte der Mörder etwas darin gesucht und dann vergessen, ihn zu schließen? Vielleicht hatte die Polizei ihn auch auf der Suche nach den Papieren der Toten geöffnet.

John wurde bewusst, dass die meisten Umstehenden ihn anstarrten. Er räusperte sich.

„Tut mir leid, Simon, mir ist diese Frau völlig unbekannt.“ Whittington sah ihn noch einen Moment lang misstrauisch an, dann wandte er sich zu einem Mann in Zivil um. Nach einem kurzen Wortwechsel kam er auf John zu, nahm ihn beim Arm und führte ihn ein paar Schritte zur Seite.

„Wir werden jetzt versuchen, durch die Befragung der Besucher und die Aufzeichnungen der Überwachungskameras den Todeszeitpunkt genauer zu bestimmen. Persönlich halte ich es für wahrscheinlich, dass die Tat beim Verlassen des Towers begangen wurde. Ob sie auf dem Weg erwürgt wurde und dann über das Geländer in die Nische hinunterbefördert wurde oder sich Opfer und Täter unten in der Nische befanden, wird sich herausstellen. Tatsache ist, dass der Täter ein hohes Risiko einging. Von der Water Lane aus hätte er leicht beobachtet werden können.“ Er trat einen Schritt näher an John heran.

„Ist es nicht höchst … seltsam, dass die Wachablösung, deren Weg exakt am Verrätertor vorbeiführt, genau an diesem Abend einige Minuten später erfolgte als sonst, weil der Wachhabende angeblich nach einem“ – er spie das Wort geradezu aus – „Vogel sehen musste.“ Nun kam er ganz nahe heran und feuerte eine letzte Breitseite ab.

„Ist dir schon in den Sinn gekommen, dass das Mädchen noch am Leben sein könnte, wenn du deinen Dienstpflichten nachgekommen wärst?“

Trotz seines grimmigen Tons war ein triumphierendes Funkeln in seinen Augen, als er John mit den Worten „Du wirst dich zu unserer Verfügung halten.“ stehen ließ.

Kapitel 3

Als John Mackenzie am nächsten Morgen vom Wecker aus einem rastlosen Schlaf gerissen wurde, erinnerte ihn das Klingeln in seinen Ohren blitzartig an die Geschehnisse der Nacht.

Der Gedanke, dass er das Mädchen vielleicht vor ihrem Angreifer hätte retten können, hätte er nur rechtzeitig seinen Weg am Verrätertor vorbei zum Byward Tower angetreten, war ihm unerträglich. Er schleppte sich in die Küche und warf einen Blick auf seinen Dienstplan. Die nächsten beiden Tage war er ganztägig für die Touristenführungen durch den Tower eingeteilt. Von morgens bis abends im Stundenrhythmus Gruppen durch die Festung zu führen, war ohnehin anstrengend, aber wie er das in seinem Zustand schaffen sollte, war ihm ein Rätsel.

Vielleicht wusste Doc Hunter Rat. Die Gemeinschaft der Beefeater, die mit ihren Familien im Tower lebte, verfügte neben einem eigenen Priester auch über einen hauseigenen Arzt, der gleich neben seiner Wohnung kleine Praxisräume hatte. John hatte den alten Herrn außer zur Einstellungsuntersuchung noch nicht konsultiert, hatte ihn dort aber als ruhigen und gründlichen Mann kennen gelernt.

Als John läutete, öffnete ihm Dr. Hunter persönlich. Mit einem Blick auf die Frühstückskrümel auf dem Pullover des Arztes entschuldigte sich John für sein frühes Erscheinen.

„Keine Sorge, Mackenzie. Ich bin sicher, Sie haben einen triftigen Grund für Ihr Kommen.“ Der Doktor winkte ihn herein. „Setzen Sie sich und erzählen Sie, was los ist.“

Verkehrte Welt, dachte John, während er in den Besuchersessel sank. Wie oft hatte er während seiner Dienstjahre mit ähnlichen Worten Ratsuchende begrüßt.

„Doc, mein Tinnitus ist wieder da. Sie wissen doch, dass ich in meinem letzten Jahr bei der Armee einen Gehörsturz hatte und danach sehr lange unter diesen Ohrgeräuschen litt?“ Hunter sah ihn aufmerksam an.

„Natürlich, Mackenzie. Sie sagten mir bei der Einstellungsuntersuchung, dass der Stress Ihrer Tätigkeit der Auslöser dafür war und Sie deshalb entschieden, Ihren Posten aufzugeben.“ John nickte und lehnte sich im Sessel zurück.

„In den letzten Jahren engte sich mein Aufgabengebiet immer mehr ein. Während ich früher Ansprechpartner bei allen möglichen Problemen der Armeeangehörigen war, von Mobbing über Schlafstörungen und Drogenmissbrauch bis zu Beziehungsproblemen, wurde ich in den letzten paar Jahren fast ausschließlich in der Arbeit mit traumatisierten Soldaten eingesetzt. Als die Anti-Terror-Einsätze unserer Streitkräfte zunahmen, gab es immer mehr Männer und Frauen, die bei den Einsätzen Unvorstellbares erlebten. Trotz aller Therapieverfahren, in denen wir ausgebildet wurden, trotz unseres Einsatzes rund um die Uhr, war alles, was wir tun konnten nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“