John holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.
„Ich spürte, wie die Schicksale der meist jungen Leute mich immer mehr belasteten; dazu kam die Hilflosigkeit, weil ich nicht mehr für sie tun konnte. Als ich schließlich zu zweifeln begann, ob unsere militärischen Einsätze wirklich immer sinnvoll sind, wusste ich, ich kann meine Arbeit so nicht weitermachen. Der Gehörsturz hat mir klargemacht, dass ich den Dienst schnellstmöglich quittieren muss, um einen Neuanfang zu machen.“
Der Arzt öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber John winkte ab. „Ich hatte ja auch großes Glück. Diese Stelle zu bekommen, wieder in England sein zu können, meine Familie wieder öfter als zweimal im Jahr zu sehen… Mir ging es gut, die ersten Monate hier. Aber dieser Todesfall gestern Nacht –“
„Mackenzie, hören Sie mir zu“, unterbrach der Arzt ihn sanft, aber nachdrücklich.
„Ich habe Ihre Personalakte gesehen und weiß, dass Sie einen guten und wichtigen Job gemacht haben. Ihre Vorgesetzten hielten große Stücke auf Sie. Aber Sie sind nun mal ein Mensch – und wie bei jedem Menschen sind Ihre Möglichkeiten einfach begrenzt. Ich verstehe, dass das Leiden der anderen irgendwann einfach zu viel wurde. Und nun glaubten Sie, im Tower einen sicheren Hafen gefunden zu haben, wo es endlich nicht mehr um Leben und Tod geht. Da ist es doch nur menschlich, wenn dieser gewaltsame Tod in unserer Mitte Sie aus der Fassung bringt.“ John schüttelte den Kopf.
„Das allein ist es nicht. Aber, so wie es aussieht, habe ich vielleicht Mitschuld am Tod der jungen Frau.“
Bass erstaunt sah der Arzt ihn an. John schilderte ihm die Geschehnisse des Vorabends. Dabei fiel ihm ein, dass er dem Superintendenten gar nichts von der Gestalt erzählt hatte, die er durch die Water Lane davoneilen gesehen hatte. Schließlich langte er bei der Vermutung Whittingtons an, die Studentin wäre auf dem Weg zum Ausgang getötet worden.
„Verstehen Sie, Doc, es muss kurz nach 22.00 Uhr passiert sein, als die Gruppe nach dem Zapfenstreich hinausging. Wäre ich schnurstracks zu meinem Posten gegangen, hätte ich den Tatort nur kurz nach ihnen passiert und hätte den Angriff vielleicht verhindern können.“
„Warten Sie mal. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es so hätte ablaufen können.“, wandte der Arzt kopfschüttelnd ein.
„Wieso nicht? Wenn das Mädchen sich am Ende der Gruppe befand, während alle dem Ausgang zustrebten, wäre dies doch für den Mörder der geeignete Moment gewesen, zuzuschlagen.“
„Unsinn. Denken Sie doch nach: Der Wachhabende, der die Gruppe während der Schlüsselzeremonie begleitet, hat strengste Order, beim Verlassen des Towers stets am Ende der Gruppe zu gehen, damit keiner zurückbleibt.“ Aufgeregt sprang John aus dem Sessel.
„Aber natürlich, Sie haben recht! Dass ich daran nicht gleich gedacht habe. Wenn Conners vorschriftsmäßig beim Hinausgehen die Nachhut gebildet hat, kann der Mord gar nicht zu diesem Zeitpunkt passiert sein! Ich muss sofort mit ihm reden. Tausend Dank, Doc.“ Schon wollte er zur Tür hinaus. Doch der Doktor rief ihn energisch zurück.
„Stopp! Junger Mann, Sie wissen, dass wir etwas gegen den Tinnitus unternehmen müssen. Ansonsten laufen Sie Gefahr, dass das Ohrklingeln Sie wieder über Monate begleitet. Also bekommen Sie jetzt erstmal eine Infusion und dann schreibe ich Sie für die nächsten Tage krank.“
John wusste, dass der Arzt recht hatte und gab sich geschlagen.
Eine Stunde später lauschte er ungeduldig, wie Michael Conners am Tower Green, dem Hinrichtungsplatz innerhalb der Festungsmauern, einer dick vermummten Besucherschar die Geschichte von Lady Jane Grey, der „Neuntagekönigin“ Englands erzählte. Trotz seiner auffällig fahlen Gesichtsfarbe und den tiefen Augenringen schien der Beefeater ganz in seinem Element. Gefesselt lauschte die Besucherschar seinem Vortrag.
„Ebenso wie vor ihr zwei der Frauen von Heinrich dem Achten, Anne Boleyn und Catherine Howard, fand auch die erst siebzehnjährige Jane Grey an dieser Stelle den Tod. Jane war eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Schon in jungen Jahren war sie vielseitig interessiert und gebildet und sprach unter anderem Latein und Griechisch. Als Urenkelin Heinrichs des Siebten stand sie in der Thronfolge nur an vierter Stelle, dennoch wollte ihr machthungriger Vater, der Herzog von Suffolk, seine jugendliche Tochter unbedingt auf dem englischen Thron sehen. Dazu wurde sie, gerade fünfzehnjährig, gegen ihren Willen mit Guilford Dudley, dem Spross einer anderen einflussreichen Familie vermählt.
Just zwei Wochen später starb König Edward mit nur fünfzehn Jahren. Janes Vater und ihr Schwiegervater, der Edwards engster Berater gewesen war, wollten die Thronfolge durch die älteste Tochter Heinrichs des Achten, die fanatisch katholische Mary Tudor, die als Bloody Mary in die Geschichte einging, um jeden Preis verhindern. Sie ließen Jane wenige Tage nach Edwards Tod hastig und ohne großes Zeremoniell hier im Tower zur Königin krönen. Von Jane wissen wir, dass sie diese Ehre nur auf immensen Druck ihrer Familie annahm. Sie selbst wünschte nicht, die englische Krone zu tragen.
In jenem turbulenten Juli 1553 kam es zwischen Janes protestantischen Anhängern und Marys Gefolgsleuten zu erbitterten Kämpfen. Mary Tudor gewann den Machtkampf sehr schnell und ließ Jane Grey und ihren Ehemann Guilford Dudley nach ihrer Krönung wegen Hochverrats verhaften und als Gefangene in den Tower bringen. Mary stellte Jane in Aussicht, sie könne der Todesstrafe entgehen, wenn sie sich zum katholischen Glauben bekenne. Als Jane jedoch auch nach mehreren Monaten der Haft standhaft blieb und Mary sie zunehmend als machtpolitisches Risiko ansah, befahl sie die Enthauptung von Jane Grey und ihrem Ehemann.
Was für Jane sehr bitter gewesen sein muss: Ihre Familie, die sie noch kurz zuvor unbedingt auf den Thron setzen wollte, unternahm nichts, um das Mädchen zu retten. Am 12. Februar 1554 wurde das Urteil vollstreckt: Auf ihrem Weg hierher zum Schafott musste Lady Jane noch den Anblick des enthaupteten Leichnams ihres Gatten ertragen, der auf einem Karren an ihr vorbeirumpelte. Nach Augenzeugenberichten war die junge Frau, die für ganze neun Tage die Königin von England gewesen war, trotz allem sehr gefasst, als sie das Schafott betrat.
Nachdem sie einen Psalm gebetet hatte, vollzog der Henker seine Aufgabe. Ihre letzte Ruhestätte fanden Jane und Guilford hier in unserer Kapelle St. Peter ad Vincula.“
Während Michael Conners am Ende der Führung noch für ein paar Fotos posierte, musste John sich beherrschen, seinen Kollegen nicht einfach wegzuzerren. Endlich gingen die letzten Touristen zufrieden schnatternd davon.
„Michael, können wir kurz reden? Es ist wichtig.“ Conners schien vor seinen Augen ein wenig zusammenzusacken, als wäre seine Energie mit dem Ende der Führung aufgebraucht.
„Natürlich, John. Ich habe jetzt eine halbe Stunde frei und könnte eine Tasse Tee zum Aufwärmen gebrauchen.“ John lud ihn in seine Wohnung ein, die nur ein paar Schritte entfernt war. Als beide über dampfenden Tassen in Johns kleiner Küche saßen, wandte sich John eindringlich an seinen Kollegen.
„Michael, als ihr gestern nach dem Zapfenstreich den Innenhof des Towers verlassen habt und durch die Water Lane hinausgegangen seid – hast du dich da am Ende der Gruppe befunden?“ Gequält sah Conners ihn an.
„John, ich schwör´s dir, als wir hinausgegangen sind, war ich ständig als Nachhut hinter der Gruppe. Es war exakt so, wie es an jedem Abend war. Naja, nicht ganz, weil George Campbell mit einer kleinen Besuchergruppe ebenfalls da war. Nachdem George mir erklärt hatte, dass das irgendwelche VIPs waren, haben wir die Herren vorgelassen, als sich das Geschehen der Schlüsselzeremonie von der Water Lane in den Innenhof verlagert hat. Nach dem Zapfenstreich hat George die Herren direkt in den Club gebracht, ist also nicht mit mir und meiner Truppe zum Ausgang gegangen. Ich sage dir, ich habe keine Ahnung, wann der Mord passiert sein kann, aber auf jeden Fall war es nicht während des Hinausgehens.“ Er rieb sich müde das Gesicht.