John setzte seine Tüten ab, da ihm die Hände taub wurden. „Aber Maggie, wir können Renie doch wirklich nicht alleine in London lassen, während die ganze Familie in Kew feiert. Das wäre grausam.“
Maggie hob resigniert die Hände. „Ich weiß auch nicht, wie wir das Dilemma lösen sollen. Vielleicht fällt dir ja etwas ein. Ich für meinen Teil muss jetzt schleunigst zum Flughafen und Tante Isabel abholen. Gnade mir Gott, wenn ich zu spät ankomme.“ Also schleppten die Männer ihre Last so schnell es ging zu Maggies Auto und sie brauste davon.
Während sie zurückgingen, fragte John, „Was gibt es Neues von Richard? Hat er seine Aussage gemacht?“ George zuckte ein wenig traurig mit den Schultern. „Ich habe schon Dutzende Male versucht, ihn zu erreichen. Gestern Abend hat es endlich geklappt. Er sagte aber nur, er hätte sehr viel zu tun, nachdem er plötzlich ohne seinen Wahlkampfmanager auskommen muss. Was mit der Polizei war, dazu sagte er gar nichts. Aber er will heute Abend vorbeikommen, dann wird er schon alles erzählen.“
John sah seinen Freund forschend von der Seite an. Auch wenn George sich um einen neutralen Ton bemüht hatte, war doch offensichtlich, dass er vom Verhalten seines Sohnes enttäuscht war. Das grandiose Bild, das die Campbells von ihrem einzigen Sohn hatten, bekam weitere Risse.
Zurück in seiner Wohnung tigerte er unentschlossen von seiner Küche ins Wohnzimmer und wieder zurück. Schließlich fasste er einen Entschluss und rief Chief Mullins an. „Ich muss wegen meiner Nichte dringend mit Dr. Farnsley sprechen. Können Sie mich heute zu diesem Fototermin ins Krankenhaus mitnehmen?“
„Natürlich. Seien Sie kurz nach fünfzehn Uhr vorne am Tor, dort sammle ich George und Edwina ein und fahre uns alle zum Krankenhaus.“
„Dazu müsste ich die Schicht tauschen, da ich heute für die Nachmittagsführungen eingeteilt bin.“
„Kein Problem. Dann setzen wir Sie gleich von zehn bis fünfzehn Uhr ein und Denham soll stattdessen von zwölf bis siebzehn Uhr einspringen. Ich kümmere mich darum. Bis später.“
In Paradeuniform lächelten George und Chief Mullins in die Kamera. Edwina hielt gemeinsam mit dem Chefarzt den stattlichen Scheck und auch Patricia hatte sich in einem lavendelfarbenen Kostüm dekorativ in Positur gestellt. Der Zeitungsfotograf drückte fix ein paar Mal auf den Auslöser. „Schon fertig, Leute. Müsste nach den Feiertagen erscheinen.“ Patricia dankte ihm überschwänglich und geleitete den Mann hinaus.
„Doktor – bitte, hätten Sie eine Minute?“ John trat schnell auf Dr. Farnsley zu, bevor dieser in den Katakomben der Klinik verschwinden konnte.
„Ja, Mr. Mackenzie?“
„Sie erinnern sich an meine Nichte Maureen?“
Der Arzt ließ ein ironisches Lächeln aufblitzen. „Wer könnte diese junge Dame je vergessen? In den wenigen Tagen, seit sie hier ist, hat sie durch ihre … eigenwilligen … Aktionen schon einen hohen Bekanntheitsgrad beim Personal erlangt.“
Zerknirscht sah John den Arzt an. „Sie ist wirklich ein wenig impulsiv. Sehen Sie, deshalb denken wir als ihre Familie auch, sie sollte besser über die Feiertage in unserer Obhut sein. Die gesamte Verwandtschaft kommt bei meinen Eltern in Kew zusammen und wir möchten das Mädchen nur höchst ungern allein in London lassen. Vor allem, da sie doch gerade das Opfer eines versuchten Mordanschlages geworden ist und soweit ich weiß, der Täter immer noch nicht gefasst werden konnte.“ John beobachtete den Arzt genau und merkte, dass dieser ins Wanken geriet.
Er spielte seine letzte Trumpfkarte aus. „Mrs. Whittington-Armsworth wird auch da sein, da sie die Gattin meines Cousins ist. Mit Sicherheit wird sie ein Auge darauf haben, dass Maureen keinen Unsinn macht und sich hübsch ruhig verhält.“
„Ah, na wenn das so ist. Natürlich vertraue ich Patricia, äh, Mrs. Whittington-Armsworth hundertprozentig…“
„Das freut mich zu hören, Dr. Farnsley.“ Patricia war zurückgekommen und bedachte den Arzt mit einem schmelzenden Blick.
„Äh, da sind Sie ja, meine Liebe. Mr. Mackenzie bat mich gerade, noch einmal über die Möglichkeit einer kurzzeitigen Entlassung seiner Nichte nachzudenken. Nun höre ich, dass Sie Weihnachten alle gemeinsam verbringen werden. Ich denke, dann kann ich es vertreten, Maureen für zwei, drei Tage in Ihre Obhut zu entlassen. Aber sie darf das Bein keineswegs belasten! Wir können Ihnen einen Rollstuhl mitgeben. Sie müssen aber für ein geeignetes Transportfahrzeug sorgen, denn selbstverständlich können wir sie nicht in einem Krankenwagen zum Verwandtenbesuch chauffieren.“
„Da finden wir schon eine Lösung, Doktor. Und schließlich wird ja auch mein Mann da sein, der, wie Sie ja wissen, Superintendent bei Scotland Yard ist und diesen schrecklichen Mordfall gerade zum Abschluss bringt. Bei uns wird Maureen also sicher wie in Abrahams Schoß sein.“
„Danke für deine Hilfe, Patricia.“, sagte John, nachdem sich Dr. Farnsley verabschiedet hatte. „Ich werde gleich Alan anrufen. Er soll versuchen, ein rollstuhlgerechtes Fahrzeug aufzutreiben.“
„Nicht nötig. Unser Kinderhospizverein hat einen solchen Wagen, den kann Alan sich ausleihen. Ich kümmere mich gleich darum.“
„Das ist wirklich sehr nett von dir.“ John bemühte sich, sein Erstaunen über Patricias plötzliche Fürsorglichkeit zu verbergen.
„Keine Ursache, John. Schließlich ist Maureen eine wichtige Zeugin in Simons bisher größtem Fall.“
„Konnten seine Leute Owen mittlerweile finden?“
Sie schüttelte betrübt den Kopf. „Simon denkt, er hat sich zum Kontinent abgesetzt. Hat er es erstmal in die Europäische Union geschafft, kann er wegen der fehlenden Grenzkontrollen überall untertauchen.“
Patricia sah aus, als empfände sie dies als persönlichen Affront gegen ihren Mann, dem der gerechte Ruhm verwehrt bleiben würde, wenn der Mordverdächtige nicht gefasst wurde.
„Na, er wird dir sicher alles über die weiteren Entwicklungen erzählen, wenn wir in Kew sind. Ich muss los, John. Grüße Maureen von mir.“ Sie glitt davon wie eine lavendelblaue Wolke auf passenden Pumps.
Kapitel 23
Die U-Bahn erreichte die Vororte und fuhr aus dem Dunkel des Tunnels hinaus in das fahle Licht des Winternachmittages. Als John an Renies Reaktion zurückdachte, musste er lächeln. So überschießend, wie sie reagierte, wenn ihr etwas gegen den Strich ging, so überschäumend war sie auch in ihrer Begeisterung. Hätte sie gekonnt, wäre sie im Bett auf und ab gehüpft. So hatte sie sich mit einem markerschütternden Freudengeheul und einer stürmischen Umarmung für ihren Onkel zufrieden geben müssen.
Maggie, die von Kew aus anrief, um sich besorgt nach ihrer Tochter zu erkundigen, war höchst erstaunt, als Renie sie ausgelassen begrüßte. Nachdem Maggie gehört hatte, dass sie nun doch Weihnachten alle gemeinsam würden verbringen können, fiel ihr ein Stein vom Herzen. „Gib mir bitte mal deinen Onkel.“ Renie reichte den Hörer weiter und trommelte fröhlich mit ihren Händen auf die Bettdecke.
„John, ich danke dir. Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk für uns. Und glaub mir, wir können erfreuliche Nachrichten hier gut brauchen.“
„Was ist los?“
„Dreimal darfst du raten. Mum und Tante Isabel – sie waren keine fünf Minuten unter einem Dach, als es schon losging. Walter hat Eddie durchs Esszimmer gejagt und der Kater ist in seiner Panik die Brokatvorhänge hinaufgeklettert. Wie die jetzt aussehen, kannst du dir ja vorstellen. Mum schrie, die verdammte Töle wäre schuld, dass ihre kostbarsten Vorhänge jetzt Müll wären. Da ist Isabel natürlich wild geworden. Auf ihren geliebten Champion lässt sie ja nichts kommen. Sie keifte zurück, solche altbackenen Vorhänge hätte sowieso kein Mensch mehr und außerdem hätte die räudige Katze Walter provoziert.“ John konnte sich lebhaft vorstellen, wie seine Mutter auf diese Bezeichnung ihres Rassekaters King Edward, eines Bruders von Maggies vierbeinigem Hausgenossen, reagiert hatte.