Bis zum Haus der Mackenzies waren es nun nur noch ein paar Schritte. Er durchquerte den Vorgarten mit den akkurat geschnittenen Buchsbaumhecken. Auf der letzten Gartenreise ihres Clubs nach Meran in Südtirol hatte Johns Mutter sich von den zahlreichen kunstvollen Heckenskulpturen inspirieren lassen. Nun bestand ihr ganzer Ehrgeiz darin, ebenfalls phantasievolle Formen zu erschaffen. Ihr erstes Projekt, eine überdimensionale Katze, die einen Buckel machte, erinnerte allerdings eher an einen Dinosaurier. Während John flüchtig überlegte, ob sein Vater beim Heckenschnitt die Finger im Spiel gehabt haben mochte, flog die Eingangstür des großen efeuüberwachsenen Hauses auf.
Bella sprang heraus. „Onkel John!“ Er öffnete die Arme und sie flog hinein. „Wir sind auch gerade angekommen, in einem riesigen Auto, in dem sogar Renie in ihrem Rollstuhl Platz hatte. Und King Olaf hat sich auf der Fahrt hierher übergeben!“, sprudelte sie heraus.
John lachte laut heraus. „Das ist doch ein guter Start in die Feiertage.“ An der Tür empfing seine Mutter ihn. „Mein Junge. Schön, dass du endlich da bist. Komm rein, komm rein. Gib mir deinen Mantel.“ Während sie den geräumigen Dielenschrank öffnete, zischte sie ihm zu, „Sie macht mich wahnsinnig. Weiß der Himmel, warum sie uns dieses Jahr heimsuchen musste.“ John konnte unschwer erraten, von wem seine Mutter sprach. Er legte den Arm um seine Mutter und erwiderte mit einem schadenfrohen Grinsen, „Tja Mum, nun siehst du mal, wie das ist. Unser geliebter Cousin Simon hat David, Maggie und mich jahrelang zur Weißglut getrieben. Du wirst es ein paar Tage mit Tante Isabel aushalten können.“ Sie kniff ihn scherzhaft in die Wange. „John Albert Mackenzie! Sprich nicht so respektlos von Simon. Ohne ihn hätten wir jetzt ein sehr trauriges Weihnachtsfest.“
Ernüchtert sah er sie an. „Du hast recht, Mum. Maggie und ich haben uns ohnehin vorgenommen, von jetzt an immer nett zu ihm zu sein.“
„So ist´s recht. Nun geh schon zu den anderen. Sie sind im Wohnzimmer.“ John brauchte nur dem Stimmengewirr zu folgen. Sein Vater, Alan, Tommy, David und seine Frau Annie mit ihrem Söhnchen Christopher hatten sich um Renie geschart, die neben dem offenen Kamin wie eine Königin in ihrem Rollstuhl thronte und wieder einmal genüsslich ihr knappes Entrinnen schilderte. Auch Tante Isabel lauschte Renies lebhaftem Vortrag. Ihre Mundwinkel zuckten. Trotz ihres hohen Alters und ihrer zierlichen Gestalt war sie immer noch eine dominierende Persönlichkeit. Als sie John erblickte, erhob sie sich ächzend aus ihrem Stuhl und kam, auf ihren Ebenholzstock mit dem Hundekopfgriff gestützt, zu ihm herüber.
„Tante Isabel, behalte doch Platz – “
„Unsinn“, unterbrach sie John ungehalten. „Junger Mann, du glaubst wohl, ich gehöre schon zum alten Eisen, was?“ Sie reckte ihm die faltige Wange entgegen. John drückte einen herzhaften Kuss darauf. „So ist´s schon besser. John, dies ist Sir Walter Scott, mein Landeschampion.“ Der Hund war ihr gemessenen Schritts gefolgt. Wohlerzogen hob er eine Pfote. Nachdem John dem Terrier die Pfote geschüttelt hatte, konnte er auch den Rest seiner Familie begrüßen. Danach ging er in die Küche hinüber, wo Maggie eben die Lammpastete im Ofen kontrollierte. „Hallo, Schwesterherz. Hmm, das riecht ja köstlich.“
„Hallo, du Retter der Familienweihnacht. Hier, trag bitte den Brotkorb hinaus. Das Abendessen ist bald fertig.“ Gehorsam tat John wie ihm geheißen und schlenderte dann in die Küche zurück. „Es ist nur für elf gedeckt. Kommen Simon und Patricia nicht?“
Maggie probierte ihre Salatsauce und tat dann noch etwas Pfeffer hinein. „Sie hatten es vor, aber Simon kann wegen der Ermittlungen noch nicht weg aus London. Sie hoffen, dass sie im Lauf des Abends noch herkommen können. Morgen bleiben sie bis zum Mittagessen, dann fahren sie weiter zu Patricias Eltern.“ John kaute geistesabwesend auf einem Blättchen frischen Korianders herum, das er aus den Kräutertöpfen auf dem Fensterbrett gepflückt hatte.
„Was für ein Geschenk habt ihr für Simon besorgt?“
„Patricia sagte mir, dass er einen neuen Siebener-Schläger zum Golfen brauchen könnte. Im Sommer sind die beiden wohl zu einem großen Prominenten-Wohltätigkeitsturnier in St. Andrews eingeladen. Also haben wir den besten Schläger gekauft, den es in dem Golfshop gab.“
John pfiff durch die Zähne. „Donnerwetter. Ich sehe Simon schon vor mir, wie er das nächste halbe Jahr wie ein Besessener trainiert, um sein Handicap zu verbessern. Verlieren konnte er ja noch nie. Kannst du dich erinnern, wie er selbst beim Federball immer diskutieren musste, ob sein Ball nun im Aus war oder nicht? Oder wie er einmal –“
„John“, unterbrach Maggie ihn mahnend. „Wir wollten die alten Kamellen doch vergessen, oder nicht?“
„Entschuldige. Alte Gewohnheit. Vorhin musste ich mich schon von Mum deswegen tadeln lassen.“
Maggie schnaubte. „Mum! Dabei benehmen sie und Tante Isabel sich mindestens ebenso kindisch und werfen sich gegenseitig Sachen an den Kopf, die schon dreißig, vierzig Jahre her sind. Sie widersprechen sich auch ständig gegenseitig, einfach aus Prinzip. Und das Schärfste ist, dass ihre Abneigung auf ihre Haustiere abgefärbt zu haben scheint. Tante Isabel schwört, dass Walter noch nie einer Katze etwas zuleide getan hätte, aber auf Eddie hat er nur einen Blick geworfen und schon ging´s los mit der wilden Jagd.“
„Was habt ihr mit Olaf und Eddie gemacht? Ich habe sie gar nicht gesehen.“
„Ich habe die beiden in das Zimmer gesperrt, das du mit Tommy teilst, oben im ersten Stock. Sie sind mit Futter, Wasser und Katzenklo versorgt, also werden sie es hoffentlich dort aushalten, so lange Walter im Haus ist. Mum und Isabel finden auch ohne die Tiere genügend Anlässe, sich zu streiten. Stell dir vor, morgen werden beide nach ihrem jeweiligen geheimen Rezept eine Preiselbeersauce zum Truthahn machen. Jede ist überzeugt, dass ihre Sauce die Bessere ist – “ Sie brach abrupt ab, als die Tür aufging und Emmeline Mackenzie hereinkam.
„Ist alles fertig, Maggie? Dann lasst uns essen, Kinder.“
Beim Abendessen saß John zwischen seinem Vater und David.
„Wie läuft die Kanzlei, Kleiner?“, fragte er seinen jüngeren Bruder, während Maggie die Suppe austeilte. David und Annie waren beide Steuerberater. Sie hatten sich in der Firma, in der beide arbeiteten, kennengelernt, geheiratet und sich vor einigen Jahren in Cambridge gemeinsam selbstständig gemacht.
„Ich kann nicht klagen, John. Unser Mandantenkreis erweitert sich beständig. Das Steuerrecht wird immer komplizierter, egal was die Politik auch versucht, um es zu vereinfachen. Zum Beispiel wird nun zum ersten Januar eine Regelung in Kraft treten…“
John bemühte sich redlich, den Ausführungen seines Bruders zu folgen, doch verlor er schon nach wenigen Minuten den Faden. Glücklicherweise warf Maggies Ehemann, der aufmerksam zugehört hatte, eine Frage ein und es entspann sich eine lebhafte Diskussion. John, dem es ein Rätsel war, wie jemand sich für die Reform der Körperschaftssteuer begeistern konnte, neigte den Kopf zu seinem Vater hinüber und fragte halblaut, „Hat Mum dir den letzten Schnitt der Buchshecken im Vorgarten überlassen?“
James Mackenzie zwinkerte seinem Sohn zu. „Du hast es gemerkt, nicht wahr? Nach dem Neuaustrieb der Blätter im Frühjahr werden wir eine wunderbare Triceratops-Skulptur haben. Und das Beste ist, dass es Emmeline noch nicht einmal aufgefallen ist, dass ihre Figur einer Felis domestica sich allmählich in einen nordamerikanischen Pflanzenfresser aus der Kreidezeit verwandelt.“
„Die meisten Menschen sehen das, was sie erwarten zu sehen.“, kam es da in etwas abfälligem Ton von der gegenüberliegenden Tischseite. Ertappt blickten beide auf. Tante Isabel lächelte heiter. Johns Vater warf einen schnellen Blick zu seiner Frau hinüber, die jedoch damit beschäftigt war, dem widerspenstigen Christopher die Gemüsesuppe schmackhaft zu machen. Beruhigt wandte er sich an Isabel und brummte, „Du hast wirklich ein ausgezeichnetes Gehör.“