„Nicht nur das. Ich sehe auch noch wie ein Adler. Und mein Gedächtnis funktioniert einwandfrei. Allerdings schränkt das Rheuma mich immer mehr ein, so dass ich nicht mehr ganz so fix bin wie ein junges Ding mit siebzig.“
Emmeline, die es aufgegeben hatte, Christopher für die Suppe zu begeistern und sich einige Karottenflecken von ihrem Ärmel tupfte, hatte ihre letzten Worte gehört. „Herzlichen Dank, Isabel. Dann darf ich mich mit meinen achtundsechzig Jahren ja noch als Teenager fühlen.“
„Es gibt Leute, die sind schon alt zur Welt gekommen, meine Liebe.“
Johns Mutter knirschte mit den Zähnen und stand dann auf, um die Teller abzuräumen. Isabel aber bedeutete ihr, sich wieder zu setzen. „Einen Moment bitte, Emmeline. Ich denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um zu erklären, warum ich in diesem Jahr beschlossen habe, Weihnachten bei euch zu verbringen.“ Sie klopfte mit einem Löffel gegen ihr Glas.
Alle verstummten und Emmeline ließ sich unwillig wieder auf ihren Stuhl fallen. Isabel sah in die Runde und hob dann an. „Meine Lieben, ihr habt euch sicher gewundert, weshalb ihr an diesen Feiertagen in den Genuss meiner Gesellschaft kommt.“ Johns Mutter bekam einen Hustenanfall.
„Ich kann euch beruhigen, es liegt nicht daran, dass ich das Ende meiner Tage nahen fühle und mich deshalb von euch verabschieden wollte.“ Emmelines Lippen formten sich zu einem stummen Schade.
„Ihr wisst sicher, dass ich seit Jahrzehnten aktiv die Belange meiner Heimat und die aller Schottinnen und Schotten vertrete. So kam es, dass ich ins Organisationskomitee der größten Zusammenkunft schottischer Clans seit vielen Jahrzehnten gewählt wurde.“
„Davon habe ich gehört“, meldete sich David zu Wort. „Einer meiner Mandanten hat mir erzählt, dass er dort hinkommen wird. Findet das Treffen nicht im August in Edinburgh statt?“
„Genau. Wir haben ein wunderbares Programm auf die Beine gestellt. Dudelsackgruppen aus verschiedenen Ländern werden auftreten, das Finale der Weltmeisterschaft der Highland Games wird an zwei Tagen stattfinden, es wird heimische Spezialitäten und Produkte in Hülle und Fülle geben. Bei der großen Clanparade werden Vertreter aller großen schottischen Familien in ihrer traditionellen Tracht mitmarschieren. Wir erwarten zehntausende Gäste aus aller Welt.“ Ein stolzes Lächeln lag auf ihren Lippen. „Es wird ein einzigartiges Erlebnis werden. Daher möchte ich, dass ihr alle dabei seid.“ Für einen Moment herrschte Stille. Wie üblich, erholte Renie sich am schnellsten von ihrer Überraschung. „Das wird total cool! Mum, bekomme ich dann einen Kilt mit dem Mackenzie-Muster?“
Bevor Maggie reagieren konnte, sprach Isabel wieder. „Renie, traditionsgemäß werden Kilts von den Männern getragen. Wir Frauen sind zu wichtigen Anlässen in ein langes Gewand gekleidet mit einer Schärpe in den Clanfarben.“
„Das könnt ihr vergessen. Ich zieh doch keinen lausigen Rock an. Das ist ja wohl total – “ Tommy verstummte mit schmerzlich verzogenem Gesicht. Maggie war ihm unter dem Tisch auf den Fuß getreten. „Tante Isabel, ich finde das eine großartige Idee. Dürfen auch angeheiratete Verwandte teilnehmen?“
„Natürlich. Ihr werdet Familienmitglieder kennenlernen, die in Neuseeland, Kanada, Australien, Holland oder sonstwo leben. Jeder Clan bekommt einen eigenen Pavillon zur Verfügung gestellt, der als Treffpunkt dienen wird.“
John ergriff das Wort. „Tante Isabel, ich werde gleich nach den Feiertagen Urlaub für diese Tage beantragen. Mit mir kannst du fest rechnen.“
Sein Vater nickte nachdrücklich. „Wir freuen uns, zu kommen, nicht wahr, Emmeline?“ Auch David und Annie sagten zu. Zufrieden blickte Isabel Mackenzie in die Runde.
„Maureen, für dich hätte ich noch ein besonderes Angebot, wenn du möchtest.“ Gespannt sah Renie auf.
„Wir bräuchten dringend jemanden für das Organisationsbüro. Wir werden mit Anfragen überhäuft und das Team kann den Ansturm ohne Verstärkung nicht bewältigen. Du würdest natürlich bezahlt und bekämst auch ein Zimmer in Edinburgh zur Verfügung gestellt.“, beeilte sie sich, hinzuzufügen.
Renie war ausnahmsweise so überrumpelt, dass sie für einen Moment sprachlos war.
„Hmm. Isabel, die Idee ist gar nicht übel, finde ich.“, ließ Johns Vater sich in die Stille hinein vernehmen. „Renie, ich denke, du könntest dieses Projekt auch im Rahmen deines Studiums nutzen. Natürlich sind es nicht gerade die Sitten und Gebräuche der Himba oder der Ubangi, die du studieren könntest. Jedoch könntest du zum Beispiel ein wenig genealogische Forschung betreiben und auch ein Bild davon bekommen, wie sehr die jahrhundertealte Kultur auch das heutige Leben in Schottland noch prägt.“
„Ich finde, du hast recht, Dad. Renie, du würdest eine Menge neuer Leute kennenlernen und mit diesem Job könntest du diese Monate doch noch sinnvoll nutzen. Du kannst später immer noch für eine Weile ins Ausland gehen.“
John konnte sehen, dass Maggie Tante Isabels Idee sehr entgegenkam.
Die alte Dame meldete sich noch einmal zu Wort. „Wir brauchen jemanden, der sich gern um die vielen verschiedenen Anliegen der Gäste kümmert, der nervenstark ist und auch in der größten Hektik nicht den Kopf verliert. Auch wenn ich noch wenig Gelegenheit hatte, dich genauer kennen zu lernen, Maureen: Ich bin überzeugt, dass du genau die Richtige bist.“
Renies Wangen glühten vor Freude über so viel Lob. „Tante Isabel“, begann sie dann feierlich, „danke, dass du mir so eine Aufgabe zutraust. Ich … mach´s!“ Alle applaudierten begeistert. „Darauf trinken wir!“, rief James Mackenzie. „Slainte mhath, wie wir Schotten sagen – Zum Wohl!“
Nach dem Essen halfen alle traditionsgemäß, den großen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer zu schmücken. Während sie Kugeln, Schleifen, Strohsterne und hölzerne Weihnachtsfigürchen anbrachten, erfüllte angeregtes Plaudern den Raum. Selbst Johns Mutter ließ sich von der harmonischen Stimmung anstecken und wandte sich in freundschaftlichem Ton an Isabel. „Unsere Renie wird gut bei dir aufgehoben sein. Sie war so traurig, als ihre Pläne für nächstes Jahr sich zerschlugen. Eine solche Aufgabe ist genau das, was sie jetzt braucht – sieh nur, wie glücklich sie aussieht.“
Beide beobachteten einen Moment, wie ausgelassen Renie mit Bella und Christopher herumalberte. „Du hast eine wunderbare Familie, Emmeline. Ich bin froh, bei euch zu sein.“
Maggie und John, die unbemerkt Zeugen dieses Wortwechsels geworden waren, sahen sich an. „Die Nacht vor dem Weihnachtstag scheint wirklich voller Wunder zu sein.“, flüsterte Maggie hinter vorgehaltener Hand. John schmunzelte. „Warten wir´s ab, wie lange der Burgfrieden hält.“
Als der Stern auf der Baumspitze prangte, entschuldigten sich David und Annie, um den aufgedrehten Christopher zu Bett zu bringen. Tommy zog es ebenfalls vor, sich zu verkrümeln. Auch Isabel zog sich zurück. Dann verkündete Bella, sie wolle auch schlafen gehen, damit der Morgen schneller da wäre. „Bitte Renie, komm mit auf unser Zimmer. Wir kuscheln uns ins Bett und du liest mir noch eine Weihnachtsgeschichte vor.“, bettelte sie.
„Gute Idee. Du musst dich sowieso hinlegen, Renie. Du weißt, was wir Dr. Farnsley versprochen haben: viel Ruhe.“
„Okay, Dad.“, gab Renie sich geschlagen. Alan und Johns Vater holten sich warme Jacken und gingen in den Garten hinaus, um ein Pfeifchen zu rauchen. Maggie, John und Emmeline Mackenzie zogen sich in die Küche zurück, um die letzten Vorbereitungen für das große Essen morgen zu treffen. John polierte das schöne Tafelsilber, als es klingelte.
Herein kamen Simon und Patricia, als wären sie gerade den Hochglanzseiten eines Modemagazins entstiegen. Das Bild wurde von ihrem silberfarbenen Jaguar komplettiert, der vor der Gartentür geparkt war. Simon sah abgespannt aus, bemühte sich aber um ein Lächeln. Er begrüßte Emmeline, die stets eine liebevolle Ersatzmutter für ihn gewesen war, herzlich.