„Unser Ritter in schimmernder Rüstung ist soeben auf seinem glänzenden Ross eingetroffen. Und er hat auch seine holde Maid mitgebracht. Lasset uns dem Ritter huldigen.“
„Renie! Ich dachte, du wärst längst im Bett.“, zischte John. Die Räder ihres Rollstuhls hatten auf dem weichen Teppich des Esszimmers kein Geräusch gemacht.
„Ich musste doch hören, was es Neues gibt.“
Simon erspähte sie durch die offene Tür und kam zu ihnen herüber. Müde sagte er, „Da seid ihr ja. Wir müssen reden.“ Er zog die Tür zur Küche hinter sich zu und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
„Habt ihr Owen endlich?“, platzte Renie heraus. Der Superintendent schüttelte den Kopf. „Wir haben noch nicht einmal handfeste Beweise, dass er wirklich der Täter ist. Seine Wohnung ergab keinerlei Hinweise. Keine illegalen Drogen. Keine Hinweise auf Schweizer Nummernkonten. Keinerlei Fotos. Keine Spur einer Verbindung zu Julia Feldmann. Keine blonde Langhaarperücke. Von seinem Vermieter und seinen Nachbarn wird er als angenehmer und ruhiger Zeitgenosse beschrieben. Richard Campbell sagt, er könnte sich unter keinen Umständen vorstellen, dass sein Wahlkampfmanager zu einem Mord fähig sei. Selbst George Campbell, der sich glücklich schätzen kann, dass sich unsere Aufmerksamkeit nicht mehr auf ihn konzentriert, hält Nigel Owen für unschuldig. “ Frustriert breitete er die Arme aus. „Verdammt, wir haben keinerlei Verdachtsmomente außer der Aussage der Chinesin. Auf den Überwachungskameras der U-Bahn ist der blonde Typ zu sehen, der dich gestoßen hat, Renie. Aber wir haben keine Ahnung, ob das wirklich Nigel Owen in Verkleidung war. Wir haben jede Mülltonne, jeden Kellerabgang, jede öffentliche Toilette, einfach alles im Umkreis von einem Kilometer abgesucht. Wenn wir nur die Perücke oder den Anorak finden könnten! Dann hätten wir die Möglichkeit, über DNA-Spuren die Identität des Täters festzustellen. Aber wir haben nichts, einfach nichts. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der seine Spuren so gründlich verwischt hat wie dieser Mann.“
Chief Mullins hatte fast dieselben Worte benutzt, als er über Gerry Burrows gesprochen hatte, fiel es John ein.
„Konntet ihr in den Militärarchiven etwas über diesen Burrows herausfinden?“
Wieder Kopfschütteln. „Auch das ist eine Sackgasse.“
Renie sah verständnislos von einem zum anderen. „Aber allein schon, dass Owen jetzt abgehauen ist, sagt doch, dass der Kerl Dreck am Stecken hat, oder nicht?“
Simon seufzte. „Ach Renie, wenn es nur so einfach wäre. Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um diesen Mann zu finden und nun sitzt mir Sir Fenton Carruthers im Genick. Wenn ich nicht bald mit Ergebnissen aufwarten kann…“ Er führte den Satz nicht zu Ende. Abrupt stand er auf. „Ich muss mich hinlegen. Ich habe kaum Schlaf bekommen in den letzten Tagen. Ihr entschuldigt mich.“
Nachdem er den Raum verlassen hatte, sahen John und Renie sich ratlos an. „Ich hatte gedacht, der Fall wäre gelöst. Nun sieht es doch nicht danach aus.“, meinte Renie bedrückt. John lächelte sie ermunternd an. „Du wirst sehen, die Geschichte wird schon zu einem guten Ende finden. Nun ab mit dir ins Bett. Sicher wird Bella bereits im Morgengrauen das ganze Haus aufwecken, um sich auf die Geschenke zu stürzen.“
Nachdem Renie davongerollt war, stand John noch lange am Wohnzimmerfenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Er wünschte, die Zuversicht, die er in seine Worte gelegt hatte, wäre echt gewesen.
Wie John vorhergesagt hatte, begann der Weihnachtstag, noch bevor das Schwarz der Nacht einem wolkenlos heraufziehenden Tag Platz gemacht hatte. Er schreckte hoch, als Tommy aus seinem Bett polterte, die Tür aufriss und die Treppe hinunterraste. Unten hörte er Bella quieken. „Tommy, du hast mich erschreckt. Ich wollte doch sehen, ob ich diesmal den Weihnachtsmann ertappen kann. Aber die Tür zum Wohnzimmer ist abgesperrt.“ Dann hörte er die Stimme seiner Mutter. „Schsch. Ihr weckt ja alle auf. Kommt zu mir in die Küche. Ich mache euch einen Kakao, und dann legt ihr euch nochmal ein Stündchen hin.“
John sah auf die rot leuchtenden Ziffern des Radioweckers. Es war sechs Uhr. Seine Mutter war sicher schon seit einer Stunde auf den Beinen, um den riesigen Truthahn vorzubereiten. Er ließ sich wieder in das Kissen zurückfallen, schob Eddie, der es sich auf seinem Bett bequem gemacht hatte, ein wenig zur Seite und schlief prompt wieder ein. Als er wieder erwachte, schien die Morgensonne durch das Fenster.
„Mmm“, grummelte er unwillig, als etwas seine Fußsohlen kitzelte. Als er ein Kichern hörte, schlug er die Augen auf. „Guten Morgen, Onkel John! Fröhliche Weihnachten! Steh endlich auf, wir wollen Bescherung halten.“
„Dir auch fröhliche Weihnachten, Bella. Lauf schon vor, ich bin in zehn Minuten unten.“
In der Küche hatte John gerade noch Zeit, sich ein Nusshörnchen und eine Tasse Tee zu schnappen, bevor sein Vater feierlich die Wohnzimmertür aufschloss und weit öffnete.
Nach einem Moment andächtigen Schweigens sprachen alle auf einmal.
„Wow! Seht euch diese Geschenkberge an.“
„So schön war der Weihnachtsbaum noch nie.“
„Lasst uns etwas singen.“
„Stopp, Christopher, das Geschenk ist nicht für dich! Nicht einfach alles aufreißen.“
„Zu spät.“
„Grrrrrrr“ Ein dumpfes Knurren drang aus Walters Kehle und schon schoss King Edward wie ein Pfeil durch die vielen Beine und raste auf den Baum zu. Reaktionsschnell griff David zu und fing den Kater ab, bevor er in den Weihnachtsbaum klettern konnte. Während alle lachten und David Applaus spendeten, warf Walter sich plötzlich herum und flitzte in die Küche.
„Der Weihnachtskuchen!“ Mrs. Mackenzie schlug sich die Hände vors Gesicht und nahm gemeinsam mit Tante Isabel die Verfolgung auf. Der Rest der Familie hörte sie schreien. „Du Biest! Sofort runter vom Tisch!“ Dann Fauchen und Gebell, Klirren und ein Krachen. Als John die Küche betrat, bot sich ihm ein Bild der Verwüstung.
Offensichtlich hatte King Olaf die Gunst der Stunde genutzt, um sich über die Butter herzumachen, die auf dem Frühstückstisch stand. Auch die Zuckerkruste von einigen Hörnchen war verschwunden. Auf der Flucht vor dem wütenden Terrier hatte er die Töpfchen mit Sahne und Marmelade auf dem Tisch umgeworfen, war dann mit einem gewaltigen Satz auf das Fensterbrett gesprungen und hatte einen von Emmelines Kräutertöpfen hinunterbefördert. Nun lugte er mit gesträubtem Fell, die Ohren flach angelegt zwischen den Stängeln des Basilikums hervor, während Walter Anstalten machte, zu seinem Feind hinaufzuspringen.
„Walter“, donnerte Tante Isabel. Der Hund drehte sich um und kam nach einem letzten Blick auf den Kater gehorsam zu ihr. John, der neues Unheil zwischen seiner Mutter und Tante Isabel heraufziehen sah, beeilte sich einzuwerfen, „Mein Fehler! Ich muss die Tür oben offengelassen haben“, und stupste Bella an, die sich vor Lachen bog. Er deutete mit beschwörender Miene auf das Wohnzimmer. Bella verstand und krähte los. „Ich will jetzt endlich meine Geschenke aufmachen. Bitte, Grandma, fangen wir jetzt endlich an.“ Sie nahm Emmelines Hand und zog sie kurzerhand davon, während Maggie, die sich eine Lachträne aus dem Auge wischte, hinterherrief, „Ich mache das hier schon. Wir können die Kinder nicht mehr länger warten lassen.“
Das Ablenkungsmanöver hatte geklappt. Erleichtert sahen John und Maggie sich an und beseitigten schnell das Chaos, nachdem Maggie die beiden Kater wieder eingesperrt hatte.
„Gott sei Dank hat Olaf nicht den Weihnachtskuchen angeschleckt. Stell dir vor, er hätte eine Alkoholvergiftung bekommen.“ Emmelines Christmas Pudding wurde über Monate hinweg teelöffelweise mit Brandy getränkt und hatte an Weihnachten ein sehr gehaltvolles Stadium erreicht.