Im Flur kam David ihnen entgegen. „Alles okay. Christopher schläft und Dad und Tante Isabel haben eifrig Pläne für das große Clantreffen geschmiedet, als wir kamen. Die beiden sind aus allen Wolken gefallen, als wir ihnen erzählten, was passiert ist.“
In der Küche hielt James Mackenzie seine Frau so fest in seinen Armen, als wollte er sie nie wieder loslassen. „Oh Gott, Em, fast hätte ich dich verloren – “ Seine Stimme versagte. Emmeline legte den Kopf an seine Brust. „Weißt du noch, wie wir beide uns vor siebenundvierzig Jahren vorgenommen haben, mindestens bis zur Diamantenen Hochzeit durchzuhalten? Als Renie und ich allein da unten saßen, habe ich nur daran gedacht – und ich war stinkwütend auf diesen … Menschen, der uns das zerstören wollte. Aber Gott sei Dank ist es nicht soweit gekommen.“
Sie löste sich sanft aus seiner Umarmung und zog ihren Mann ins Wohnzimmer, wo das Feuer anheimelnd prasselte und Maggie mit Annies Hilfe Tee, Kakao und stärkere Getränke einschenkte.
Sie ging zu John hinüber und wandte sich wieder an ihren Mann. „Und weißt du, wem wir das zu verdanken haben? Unserem Sohn. John hat mit einer unglaublichen Geistesgegenwart gehandelt. Wir können sehr stolz auf ihn sein.“
John wehrte verlegen ab. „Dad, Mum übertreibt. Sie war großartig. Sie hat den Kerl so lange am Reden gehalten, dass ich Zeit hatte, mir eine improvisierte Waffe zu beschaffen. Außerdem wäre ich nie auf die Idee gekommen, einen Giftstachel zu benutzen, wenn ich nicht durch ihre unermüdlichen Lektionen über die Wirkung des Upas-Baumes Bescheid gewusst hätte. Und schließlich Renie: Wenn sie Owen nicht so furchtlos von seiner Pistole ferngehalten hätte, würden wir jetzt nicht hier sitzen.“
Isabel hob ihr Glas. „Ich bin glücklich, dass Mut, Kampfgeist und Scharfsinn unseres Vorfahren Alistair Mackenzie, der an der Seite unseres großen Freiheitshelden William Wallace kämpfte, bis heute in unserer Familie überdauert.“ Mit einem verschmitzten Blick zu Emmeline hinüber ergänzte sie, „Und sogar bei angeheirateten Familienmitgliedern. Auf die drei Mackenzie-Musketiere!“
Kapitel 26
Als John sich vor dem Abendessen umzog, klingelte das Telefon.
„John! Simon ist für dich dran.“, rief seine Mutter aus dem Flur nach oben.
„Ich komme!“ Er eilte die Treppe hinunter und griff nach dem Hörer. „Simon? Was gibt es Neues, habt ihr ihn?“ Das Fluchen des Superintendenten sagte ihm, dass es keine guten Nachrichten gab.
„Ich habe alle Männer zusammengezogen, die ich am Weihnachtsabend kriegen konnte. Kew ist praktisch abgeriegelt. Und trotzdem muss er uns irgendwie durch die Maschen geschlüpft sein.“
John überlegte angestrengt. „Owen ist ein Organisationsgenie und sicher für alle Eventualitäten vorbereitet. Und er scheint sich so gut wie unsichtbar bewegen zu können. Mir ist während der letzten Tage nie aufgefallen, dass er in der Nähe war. Was könnte sein nächstes Ziel sein?“
„Wenn er schlau ist, und das ist er ja wohl, setzt er sich ab. Wir überwachen die Flughäfen, Bahnhöfe, den Schiffsverkehr…“
John unterbrach ihn. „Irgendwie habe ich das Gefühl, er hat gar nicht vor, zu verschwinden, zumindest noch nicht. Er sagte, er würde sich später um mich und George kümmern. Es muss ihm jetzt klar sein, dass er an mich und Renie nicht mehr herankommen wird. Aber ich möchte wetten, dass er es immer noch auf George abgesehen hat. Oh Gott, warum habe ich nicht früher daran gedacht – wir müssen ihn warnen!“
„Wenn man eben erst einem Mörder entkommen ist, dann funktioniert der Denkapparat vielleicht nicht so gut.“, bemerkte Simon trocken und fuhr dann in selbstzufriedenem Ton fort, „Gott sei Dank habe ich gleich nach deinem Alarm im Tower Bescheid geben lassen, dass Campbell die Festung nicht verlassen soll. Dort dürfte er sicher sein.“
John atmete tief durch. „Danke, Simon. Ich werde George gleich selbst anrufen und ihm alles berichten.“
Aber als er die Nummer der Campbells wählte, meldete sich niemand. Stirnrunzelnd versuchte er es bei der Wache im Byward Tower. Was sein Kollege ihm mitteilte, versetzte John einen Schock.
Umgehend rief er wieder bei Simon an. „George und Marcia haben vor wenigen Minuten den Tower in höchster Eile verlassen und sich ein Taxi gerufen. Owen muss sie mit irgendeinem Druckmittel dazu gebracht haben.“
„Richard!“, riefen beide im selben Moment aus. John konnte hören, wie Simon ein paar scharfe Befehle gab.
„Wir werden versuchen, die beiden abzufangen, bevor sie Richards Apartment erreichen. Gott sei Dank wohnt er oben in Maida Vale, also müssen sie noch unterwegs sein.“ John ging nervös im Flur hin und her, während er fieberhaft überlegte.
„Simon, kannst du mir einen Wagen besorgen, der mich dorthin bringt?“
„Ich weiß zwar nicht, was du vorhast, aber es kann ja nichts schaden, wenn du dabei bist. Einer der Beamten, die bei euch stationiert sind, soll dich fahren.“ John griff nach Schuhen und Jacke und rief seiner Mutter, die beunruhigt aus der Küche kam, zu, „Ich rufe euch aus dem Auto an, ich muss weg.“
Draußen erwartete ihn einer der Polizisten und lief mit ihm zu seinem Dienstwagen. „Ich bin bereits über Funk informiert, wo es hingehen soll. Schnallen Sie sich an – wir müssen auf die Tube drücken.“ Mit Sirene und Blaulicht rasten sie über die dunklen Straßen, die wegen des Feiertags kaum belebt waren.
„Haben Sie ein Telefon, das ich benutzen kann?“ Der Beamte zog ein Diensthandy aus seiner Reverstasche. „Bedienen Sie sich.“
Maggie nahm ab und John erklärte ihr mit knappen Worten, wohin er unterwegs war. Besorgt sagte sie, „Pass auf dich auf, John.“
„Ich versuch´s. Hebt mir einen von Mums Knödeln auf.“ John gab das Telefon zurück und klammerte sich an den Haltegriff, während sie mit achtzig Meilen pro Stunde nach Norden brausten. Einige Meilen vor ihrem Ziel kam über Funk die Nachricht, alle Wagen sollten sich möglichst unauffällig nähern und zwei Straßen entfernt parken. Eine Sondereinheit mit Scharfschützen zur Geiselbefreiung stünde bereit.
Als John und sein Fahrer ankamen, wurden sie von einer Reihe Beamter umringt und im Eiltempo einige hundert Meter weiter geführt. Dort wartete der Superintendent mit George und Marcia Campbell. George trat auf John zu. Verzweiflung war ihm ins Gesicht geschrieben. „John! Owen hat Richard in seiner Gewalt. Er rief mich an und sagte, wenn ich nicht innerhalb einer Stunde herkäme, würde er ihn umbringen. Keine Polizei und ich müsste allein kommen.“
Marcia trat neben ihren Mann. „Aber ich wollte ihn nicht allein gehen lassen. Wenn du da reingehst, George, dann komme ich mit.“ Sie sah ihren Mann entschlossen an. George tätschelte ihre Hand und sah John hoffnungsvoll an. „Hast du eine Idee, was wir tun sollen? In wenigen Minuten läuft die Frist ab.“
„Auf keinen Fall lasse ich zu, dass Sie da hineingehen, Campbell. Sie kämen da nicht wieder lebendig heraus. Owen hat Sie nur mit dem Ziel hierher gelockt, Sie zu töten, egal, was er Ihnen gesagt hat.“, mischte sich Simon ein.
„Sie können mich nicht aufhalten, Whittington. Richard ist unser Sohn, unser einziges Kind. Ich werde diesem Wahnsinnigen die Stirn bieten. Das ist unsere einzige Chance.“ Die beiden Männer sahen sich finster an.
John ergriff das Wort. „Wo genau liegt das Apartment? Welche Zugriffsmöglichkeiten gibt es?“ Simon winkte den Kommandanten der Sondereinheit heran. „Wie ist die Lage, Bill?“
„Das Zielobjekt liegt im dritten Stock. Meine Leute sagen, dass sie vom obersten Geschoss des gegenüberliegenden Hauses freies Schussfeld auf den Balkon und das dahinter liegende Zimmer hätten. Allerdings sind derzeit die Vorhänge vorgezogen, so dass kein Sichtkontakt in die Wohnung möglich ist. Außerdem ist es uns noch nicht gelungen, in das Haus hineinzugelangen, wo wir die Scharfschützen postieren müssen. Dort wohnen nur drei Parteien und die Leute scheinen alle über die Feiertage weggefahren zu sein.“