„Dringen Sie zur Not gewaltsam dort ein. Wir werden versuchen, Owen in Ihre Schussbahn zu bringen.“, beschloss John kurzerhand. Simon nickte nach kurzem Zögern zustimmend und die Sondereinheit setzte sich in Bewegung.
„George, Marcia – wir können es schaffen, Richard da herauszuholen, aber ich brauche eure Hilfe.“ Beide nickten.
„Schusssichere Westen für die drei, schnell. Und stattet sie mit Mikrofonen aus.“, kommandierte Simon, als er Johns Plan gehört hatte. „Haben Sie ein Mobiltelefon, Campbell?“
„Wir benutzen es kaum. Es liegt zu Hause.“
Simon seufzte auf. „Was ist das nur mit euch Beefeatern? Warum könnt ihr nicht wie jeder normale Mensch dafür sorgen, dass ihr erreichbar seid? Hier, nehmen Sie meins. Und jetzt alle absolute Ruhe.“ George sah Marcia an, dann wählte er Richards Nummer. „Mr. Owen? Ich bin da. Meine Frau ist auch hier. Können wir hereinkommen?“
„Wieso haben Sie Ihre Frau mitgebracht? Na, egal, rein mit ihr.“ Simon nahm George das Handy aus der zitternden Hand und steckte es ein. „Viel Glück uns allen. Los geht´s.“
John wurde von einem der Beamten zur Rückseite des Hauses gebracht. Er postierte sich unter dem Balkon, der ihm angezeigt wurde und wartete. Durch den Knopf in seinem Ohr hörte er George murmeln. „Ich klingle jetzt.“
Er griff nach seinem Funkgerät, durch das er in Kontakt mit der Sondereinheit stand. „Sind Sie soweit, Bill?“
„Noch nicht. Wir arbeiten noch an der Eingangstür.“
„Okay, geben Sie mir Bescheid, wenn ich loslegen kann.“
„Roger.“ John lauschte angespannt, was in Richards Wohnung vor sich ging.
„Was haben Sie meinem Jungen angetan? Ist er bewusstlos?“
Owen ließ ein abfälliges Lachen hören. „Unser lieber Richard hat es ganz ohne mein Zutun geschafft, sich ins Reich der Träume zu versetzen, Marcia. Guter Stoff, den er da geraucht hat. Fröhliche Weihnachten, du Pfeife.“ Ein dumpfer Schlag folgte.
Marcia schrie auf. „Hören Sie auf, Sie Schwein – “
John stöhnte auf. Wenn er nicht schnell handelte, würde die Situation dort oben schneller als gedacht eskalieren. „Wie lange brauchen Sie noch, Bill?“
„Ich schätze, zwei Minuten. Wir sind jetzt im Haus, müssen aber noch eine Wohnungstür aufbrechen, um an die Fenster zu kommen.“ John steckte das Funkgerät weg.
Dann legte er die Hände an den Mund und brüllte „Owen! John Mackenzie hier.“ Einige Augenblicke lang hörte John durch Georges Mikrofon nur schweres Atmen. Dann vernahm er Owens verblüffte Stimme. „Wie kommt der Mistkerl hierher? Haben Sie ihn angerufen?“
„Nein.“, sagte George ruhig. „John ist ein schlauer Bursche. Wussten Sie, dass er bei der Army Truppenpsychologe war? Er muss von selbst darauf gekommen sein, dass Sie nicht einfach auf den Kontinent abtauchen würden, sondern dass Sie Ihre Pläne, sich an mir zu rächen, bis zum bitteren Ende verfolgen würden. Und welches bessere Druckmittel hätten Sie wählen können, als meinen Sohn in Ihre Gewalt zu bringen?“
„Owen!“, rief John wieder. „Ich weiß, dass Sie George abgrundtief hassen. Aber Ihr Wunsch nach Vergeltung hätte heute fast meine Mutter und meine Nichte das Leben gekostet. Ist es nicht an der Zeit, einen Schlussstrich unter die ganze Sache zu ziehen, bevor noch mehr Unschuldige hineingezogen werden?“ Schweigen.
John entschied, dass es an der Zeit war, schärfere Geschütze aufzufahren. „Gut, bringen Sie alle um, die Ihnen je in die Quere gekommen sind. Was wollen Sie dann mit dem Rest Ihres Lebens anfangen? Wenn Sie erst einmal mit allen abgerechnet haben, was bleibt Ihnen dann noch? Wissen Sie eigentlich selbst noch, was der Grund für Ihren Hass ist?“
Als immer noch alles still blieb, schloss er voller Abscheu, „Oh Gott, Sie sind wirklich die erbarmungswürdigste Gestalt, die mir je untergekommen ist.“ Dann schickte er ein Stoßgebet zum Himmel und wandte sich ab.
Da hörte er, wie die Balkontür aufgerissen wurde. Langsam drehte er sich wieder um. In dem Licht, das nun aus dem Wohnzimmer strömte, konnte er Owens Silhouette sehen.
„Was passiert da draußen? Wir sind noch nicht in Position, wiederhole: noch nicht in Schussposition!“ quäkte es in seiner Tasche.
„Da sind Sie ja endlich, Owen. Also erklären Sie mir nun, womit George Ihren unendlichen Hass verdient hat?“
„Er hat meine Karriere, mein ganzes Leben – und das meiner Eltern – zerstört! Nur, weil er den Mund nicht halten konnte. Ohne ihn wäre ich heute mit Sicherheit bereits Colonel oder Brigadegeneral. Ihr ganzes Leben haben sich meine Eltern eine erfolgreiche Militärlaufbahn für mich gewünscht. Hah! Nur wegen ein paar Tabletten, die ich unter der Hand verkauft hatte, haben sie mich wegen Unterschlagung und Betrugs verurteilt und unehrenhaft entlassen.“ Nun, da er begonnen hatte, zu reden, sprudelte es geradezu aus Owen heraus.
„Meine Mutter hat das nicht verkraftet und sich die Pulsadern aufgeschnitten. Mein Vater verlor dann jeden Lebenswillen und starb zwei Jahre später. Und da fragen Sie mich noch, warum ich diesen Mann so sehr hasse, dass ich Jahre meines Lebens dafür geopfert habe, einen Racheplan zu erdenken, der ihn tiefer treffen sollte, als wenn ich ihn einfach umgebracht hätte. Es hätte auch alles perfekt geklappt, wenn Sie nicht dazwischengefunkt hätten.“
Er wies mit einem Kopfnicken nach hinten in die Wohnung. „Bedauerlich, dass Ihr Freund George nicht mitansehen kann, wie Sie jetzt gleich sterben werden, da ich ihn und die liebe Marcia festketten musste.“ John sah, wie Owen anlegte. Dann passierte alles gleichzeitig. Durch den Knopf in seinem Ohr hörte er Rufe aus der Wohnung, das Funkgerät erwachte zum Leben. „Feuer frei, Männer“ Mehrere Schüsse krachten. Owen kippte im Zeitlupentempo nach vorne über das Balkongeländer und schlug unten auf dem Rasen auf, wo er leblos liegenblieb. Johns Knie gaben nach und er plumpste auf das Pflaster.
Sechs Tage später standen John und Maggie am Panoramafenster des La Gondola über dem Victoria Embankment und blickten über die wogenden Menschenmassen an den Themseufern.
In wenigen Minuten würde das Jahr zu Ende sein. Hunderttausende warteten auf das große Feuerwerk, das die Stadt alljährlich zu Silvester veranstaltete. Alan hatte zur Feier des Tages die ganze Familie in das Restaurant eingeladen.
Während der Kellner eine große Flasche Champagner und Gläser mit Orangensaft brachte, betrachtete Maggie ihren Bruder forschend. „Geht’s dir gut, John? So turbulent hättest du dir deine Rückkehr nach England sicher nicht vorgestellt.“
John lächelte. „Da hast du recht. Aus meinem Plan, meine Topfpflanzen zu pflegen, tonnenweise Bücher zu lesen und mein ruhiges Leben zu genießen, ist bisher nichts geworden. Aber es ist mir immerhin schon gelungen, Zeit mit meiner Familie zu verbringen – und das ist doch auch schon was.“
Maggie lachte. „Und was wir für aufregende Zeiten miteinander erlebt haben, vor allem du und Renie!“ John grinste breit und nahm ein Saftglas an, das der Kellner ihm reichte.
Da klatschte der Maitre in die Hände und rief, „Noch eine Minute bis Mitternacht, meine Herrschaften. Wenn Sie sich nun zu den Aussichtsfenstern begeben möchten…“
Allgemeines Stühlerücken war die Folge. Renie humpelte auf ihren Krücken heran, gefolgt vom Rest der Familie. Die letzten Sekunden zählten alle im Chor. „Zehn, neun, acht, sieben, ...“ Dann knallten die Korken und draußen explodierten die ersten Feuerwerkskörper.
„Should auld lang syne“ erklang aus Tausenden von Kehlen. Bilder aus der Vergangenheit tauchten in Johns Kopf auf. Bilder von Jahreswechseln, die er in fremden Kasernen verbracht hatte. Gemeinsam hatten sie vor einem Fernsehgerät gesessen und die Übertragung aus London gesehen. Er spürte die Wehmut, die damals in der Fremde alle umfangen hatte.