Die Tür öffnete sich schwungvoll und Whittington trat widerstrebend heraus. Sein ansonsten makelloses Auftreten hatte ein wenig gelitten. Doch er gab sich noch nicht geschlagen.
„Sie haben wohl vergessen, dass Sie und Ihre ganze Einheit als Special Constables der Londoner Polizei unterstellt sind. Ich werde jetzt an geeigneter Stelle Beschwerde einlegen, dass Ihre Kooperation bei der Aufklärung dieses Kapitalverbrechens sehr zu wünschen übrig lässt. Sie werden mich noch kennen lernen.“ Mit einem Blick auf John knurrte er noch, „Mit dir werde ich mich später unterhalten.“ Damit fegte er durch die Ausgangstür. John fiel ein Stein vom Herzen. Ein weiteres Verhör war ihm vorerst erspart geblieben.
„Ah, Mackenzie. Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Mit Ihnen wollte ich sowieso sprechen.“
Der Chief winkte John in sein Büro. Mullins setzte sich und nahm eines der zahlreichen Flugzeugmodelle zur Hand, die die Regale und auch den Schreibtisch bevölkerten. Die Fliegerei war seine große Leidenschaft. Er war ein ranghoher Offizier der Royal Air Force gewesen, bevor er in den Tower kam. Seine Frau war vor einigen Jahren gestorben. Seitdem verbrachte er seine Freizeit meist auf einem kleinen Privatflugplatz in Surrey, wo er zusammen mit anderen Luftsportbegeisterten ein kleines Motorflugzeug besaß. Er war ein Mann mit natürlicher Autorität und ohne Allüren, den John zutiefst respektierte.
Schließlich stellte Mullins den Modellflieger zur Seite.
„Mackenzie, mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie sich gestern zu Ihrem Dienstbeginn im Byward Tower verspätet haben. Angeblich wegen eines unserer Raben?“ John rutschte unwillkürlich etwas tiefer in seinen Ledersessel.
„Sir, Sie haben recht. Es tut mir leid –“ Weiter kam er nicht.
„Papperlapapp. Unsere Raben sind wichtige Mitglieder der Tower-Gemeinschaft. Unser Ravenmaster hat mir schon berichtet, dass Sie sich für die Tiere interessieren und ihm auch häufig bei seinen Aufgaben helfen. Daher sind ein paar Minuten Verspätung verzeihlich.“ John starrte seinen Kommandanten überrascht an. Dieser lächelte milde und griff zum Telefon.
„Einen Moment, Mackenzie.“ Dann sprach er in den Hörer.
„George? Patrick hier. Wie geht es ihm?“ Nach einigen Momenten lachte er leise und legte gleich darauf auf.
„Gworran hat wieder einmal an einer Antenne geknabbert. Gerade, als der Tierarzt eintraf, kam der Grund seines Unwohlseins auf natürliche Weise zum Vorschein: eine kleine Schraube. Kein Wunder, dass ihm die im Magen gelegen hat. Seine Großmutter hatte die gleiche Eigenart. Wir mussten sie vor mehreren Jahren frühzeitig in Pension schicken, weil sie die Fernsehantenne unseres Doktors einige Male zerstörte. Jetzt aber wieder zu Ihnen.“
Chief Mullins zog aus einer Schublade einen Grundriss des Towers und den Dienstplan des gestrigen Tages heraus, dazu die Bücher, in denen die Aufzeichnungen in den Wachstuben geführt wurden.
„Wir sind uns einig, dass Conners beim Verlassen des Towers die ganze Gruppe vor sich im Blickfeld hatte?“, begann er unvermittelt. John nickte.
„Demnach muss der Mord bereits vor dem Ende des Zapfenstreichs passiert sein, genauer gesagt im Zeitraum zwischen 21.45 Uhr, als die Touristengruppe in die Water Lane geführt wurde, und zirka 22.00 Uhr. Wie mir Whittington sagte, hat die Analyse der Aufzeichnungen unserer Sicherheitskameras keine brauchbaren Hinweise ergeben. Auf Grund der Größe der Gruppe und der Lichtverhältnisse lässt sich auf dem vorhandenen Material nichts Brauchbares erkennen.“ Mullins seufzte.
„Wenn man bedenkt, dass sich im Umkreis von hundert Metern rund um die Kronjuwelen nicht einmal eine Maus bewegen könnte, ohne mehrfach gefilmt zu werden, ist es eigentlich eine Schande, dass wir am entgegengesetzten Ende des Towers nur das Notwendigste an Überwachung haben. In der Water Lane selbst haben wir nur zwei Kameras. Die eine ist auf den Eingang am Byward Tower gerichtet, die zweite auf den Gruppenausgang weiter östlich. Keine der beiden erfasst den Bereich vor dem Verrätertor. Wahrscheinlich wird es sich für die Zukunft nicht vermeiden lassen, noch mehr Überwachungskameras zu installieren.“ Er kritzelte etwas auf ein Papier und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf John.
„Nach den Aufzeichnungen der Torwache haben Sie den Tower um 21.56 Uhr betreten. Reichlich spät, muss ich sagen.“ Er runzelte die Stirn und bedachte John mit einem strengen Blick.
„Nun ja, trotzdem haben Sie sich Punkt 22.00 Uhr bei Ihrem Offizier gemeldet. Ihre Wohnung, in der Sie sich umziehen mussten, liegt ein ganzes Stück weit weg von der Water Lane. Daraus ziehe ich den Schluss, dass Sie mit dieser Geschichte nichts zu tun haben können.“ John räusperte sich.
„Das ist richtig, Sir. Auch wenn unser Freund, der Superintendent, da seine Zweifel zu haben scheint.“ Mullins lachte auf.
„Dieser Whittington, das ist vielleicht ein bornierter Schnösel. Solche Lackaffen habe ich in meinem Leben schon zur Genüge gesehen, mit ihrem Upper class-Akzent und ihren einflussreichen Verbindungen. Die meisten von diesen Typen waren im Ernstfall nicht zu gebrauchen.“ Plötzlich schlug er sich mit der Hand auf den Mund.
„Donnerwetter, nun habe ich ganz vergessen, dass dieser Mensch ja mit Ihnen verwandt ist, wie er mir sagte. Nichts für ungut, Mackenzie.“ Doch John grinste nur breit.
„Sir, mein Kompliment für Ihre Menschenkenntnis. So schnell hat bisher noch niemand meinen Cousin durchschaut. Der Fairness halber muss ich aber sagen, dass er den Ruf hat, ein cleverer Ermittler zu sein.“ Mullins wiegte nachdenklich den Kopf.
„Hm. Ich möchte mich ungern darauf verlassen, dass er diesen Fall lösen wird. Wie Sie sich vorstellen können, ist es unser oberstes Interesse, dass diese Geschichte schnell wieder aus den Schlagzeilen verschwindet. Heute früh hatte ich schon diverse Anrufe von ganz oben deswegen. Unsere verehrte Dienstherrin –“, er warf einen Blick auf das königliche Porträt an der Wand – ist not amused, wie ich höre. Wir müssen also alles in unserer Macht stehende tun, damit der Mörder dieser jungen Frau gefunden wird, und zwar flott.“
„Was meinen Sie, Chief? Scotland Yard arbeitet doch sicher mit Hochdruck daran. Was könnten wir noch zusätzlich tun?“
Mullins stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Er hockte sich auf die Schreibtischkante und fixierte John mit einem durchdringenden Blick.
„Ihnen ist doch klar, dass der Kreis derer, die dieses Verbrechen begangen haben können, sehr begrenzt ist? Da ist zum einen die Touristengruppe, sechsunddreißig Leute. Dann die sechsköpfige Politikertruppe, die Richard Campbell und sein Wahlkampfmanager, Nigel Owen, in den Club eingeladen haben. Von der militärischen Garde waren vierzehn Mann im Tower. Zehn von ihnen waren aktiv an der Schlüsselzeremonie beteiligt und hätten ihre Plätze im kritischen Zeitraum nicht verlassen können, daher scheiden sie als Verdächtige aus. Die anderen vier bewachten zusammen mit zwei von uns die Kronjuwelen. Dann haben wir unseren guten Doktor und unseren Priester mit ihren Ehefrauen, dazu Sid, unseren Barmann. Und schließlich: die Beefeater, von denen gestern einschließlich mir und Ihnen zweiunddreißig anwesend waren. Die restlichen vier sind im Urlaub. Dann kommen noch die hier lebenden Ehepartnerinnen in Betracht. Von den sechs minderjährigen Kindern unserer Männer befand sich keines hier. Wie Sie ja wissen, besuchen sie alle Internate. Wenigstens über sie brauchen wir uns keine Gedanken zu machen.“
Mullins fuhr sich erregt über seinen ohnehin schon zerzausten Rotschopf. „Verstehen Sie mich, Mackenzie: Natürlich liegt es mir fern, einen meiner Männer einer solchen Sache zu verdächtigen, aber dennoch kann ich es nicht völlig ausschließen, dass einer von ihnen darin verwickelt ist. Und deshalb möchte ich, dass Sie Nachforschungen anstellen!“ John dachte, er hätte sich verhört.