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„Wie bitte, Sir?“

„Erstens: Nur drei von uns haben ein wasserdichtes Alibi. Das bin ich, weil ich die Schlüsselzeremonie durchgeführt habe. Dann Conners, der für die Touristen zuständig und damit ständig im Blickfeld der Leute war. Und schließlich Sie. Alle anderen hatten entweder frei oder waren für Wachdienste eingeteilt, so dass erst überprüft werden muss, wo sie zum fraglichen Zeitpunkt tatsächlich waren. Zweitens: Wie ich höre, hat Doc Hunter Sie für die nächsten Tage krankgeschrieben. Lassen Sie mich raten: Ihr Tinnitus plagt Sie wieder?“ John nickte stumm.

„Sie haben also ein wenig Freiraum in nächster Zeit. Drittens: Sie sind dazu ausgebildet worden, Menschen zuzuhören, ihr Verhalten zu beobachten und daraus Schlüsse zu ziehen. Viertens: Sie sind noch nicht lange Mitglied der Beefeater und damit der unvermeidlichen Seilschaften, die sich in der Truppe bilden. Ihnen würde ich zutrauen, auch möglicherweise schmerzliche Erkenntnisse über Mitglieder der Einheit nicht unter den Teppich zu kehren. Kurzum: Sie sind der ideale Kandidat für unsere internen Ermittlungen.“

Mullins hob abwehrend die Hand, als John den Mund öffnete. „Mir ist bewusst, dass ich Sie nicht dazu zwingen kann. Aber ich möchte Sie bitten, es sich zu überlegen. Ich vertraue Whittington nicht, punktum. Er hat nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch MI5 im Nacken sitzen, die bei einem Kapitalverbrechen in unmittelbarer Nähe der Kronjuwelen natürlich auf den Plan treten. Polizei und Geheimdienst haben die besten Möglichkeiten, unsere Touristengruppe und die werten Politiker zu überprüfen. Aber was unsere Männer betrifft, sitzen wir hier an der Quelle und haben den besten Einblick. Selbstverständlich werden wir Ihre Nachforschungen geheim halten.“ Mit einem Blick auf die Uhr stand er auf.

„Ich habe jetzt einen Termin. Bitte denken Sie darüber nach und geben Sie mir heute Nachmittag Bescheid, wie Sie sich entschieden haben. Ach, und übrigens: Falls Ihnen ein Reporter über den Weg läuft – wir geben keinerlei Kommentar ab.“

Damit war John entlassen. Wie so oft, wenn sich die Gedanken in seinem Kopf im Kreis drehten, hatte er das Bedürfnis nach einem langen Spaziergang.

Kapitel 4

Eine Stunde später fand er sich vor der St. Paul´s Cathedral wieder. Einige Arbeiter stellten vor dem Portal gerade einen riesigen Weihnachtsbaum auf. Auch die Geschäfte in der Cannon Street hatten schon begonnen, Lichterketten aufzuhängen. John freute sich sehr darauf, nach so vielen Jahren die Weihnachtszeit wieder in der Heimat zu verbringen. Er malte sich aus, wie er sich in den nächsten Wochen ins Getümmel stürzen würde, um Geschenke für seine zahlreiche Verwandtschaft zu besorgen. Bedauernd schob er diesen Gedanken wieder beiseite und lenkte, einem spontanen Einfall folgend, seine Schritte zum Old Bailey, wo sich das Büro seiner Schwester Maggie befand.

Die junge Dame am Empfang der Staatsanwaltschaft wählte eine Nummer, sprach kurz und drückte ihm dann den Telefonhörer in die Hand. „Bitte sehr. Ms. Hughes ist am Apparat.“

„John! Suchst du nach weiblicher Begleitung für ein schickes Mittagessen oder ist was passiert?“, drang die Stimme seiner Schwester an sein Ohr.

„Beides“, erwiderte er trocken.

Zehn Minuten später saßen sie sich in einer Nische von Maggies Lieblingsitaliener gegenüber. Während Maggie die Tageskarte studierte, ließ John seinen Blick über ihr Gesicht schweifen. Abgesehen von ihrer hochgewachsenen, eher hageren Figur, die ihr Vater an alle drei Mackenzie-Geschwister vererbt hatte, waren sie sich äußerlich völlig unähnlich. Maggie entsprach mit ihrem glatten blonden Haar, das sie in der Regel zu einem Knoten hochgesteckt trug und ihren klassisch-strengen Outfits ganz dem Bild der seriösen Staatsanwältin. John dagegen genoss es, sein braunes Wuschelhaar endlich nicht mehr militärisch kurz schneiden zu müssen und bevorzugte außerhalb des Dienstes eher sportlich-legere Kleidung.

„Wieso siehst du mich so an, John-Boy?“ Mit diesem Spitznamen hatte sie ihn seit ihrer Kinderzeit geärgert.

„Du hast da an der Stirn eine erste Falte, weißt du das?“, neckte er sie. Spielerisch drohte sie ihm mit der Gabel.

„Du bist doch wohl nicht nur gekommen, um mir Beleidigungen an den Kopf zu werfen, oder? Jetzt rück schon mit der Sprache raus. Warum wolltest du mit mir reden?“ John spießte eine Olive auf und betrachtete sie versonnen.

„Denkst du, ich eigne mich zum Privatschnüffler?“

Die Glocke von St. Peter ad Vincula schlug halb zehn. John fror erbärmlich. Gerne wäre er in dem Lagerraum im obersten Stock des Bloody Towers ein paar Schritte gegangen, fürchtete aber, im Dunkeln über irgendeinen Gegenstand zu stolpern. So hüpfte er auf und ab, in der Hoffnung, ein wenig warm zu werden. Aus dem verstaubten Fenster konnte er auf die verlassene Water Lane hinunterschauen. Direkt gegenüber lag das Verrätertor in seiner dunklen Nische. Bis auf das Dröhnen in seinen Ohren, das mal abflaute und dann wieder anschwoll, war kein Laut zu hören.

Als er sich heute Nachmittag von Maggie verabschiedet hatte, war ihm bereits klar gewesen, dass er dem Drängen des Chiefs nachgeben und versuchen würde, zur Lösung des Mordfalls beizutragen. In ihrer praktischen Art hatte Maggie gemeint, „Die Geschichte wird dir – bei deiner angeborenen Neugierde – sowieso in nächster Zeit nicht aus dem Kopf gehen, also kannst du genauso gut die Zeit nutzen, etwas herauszufinden. Und es wäre doch einfach zu schön, wenn du am Ende vielleicht unserem geliebten Cousin sogar einen Schritt voraus wärst.“ John musste sich eingestehen, dass ihm dies diebische Freude bereiten würde.

Auf dem Rückweg zum Tower hatten einige Ideen in seinem Kopf Gestalt angenommen. Als erstes wollte er Mullins vorschlagen, Conners die Besuchergruppe bei der heutigen Schlüsselzeremonie abermals nach demselben Ablauf wie immer führen zu lassen. Er selbst wollte sich im Hintergrund halten und herausfinden, wann es einen unbeobachteten Moment gäbe, in dem der Mörder zugeschlagen haben konnte.

Zu seiner Enttäuschung unterrichtete ihn Mullins, dass Whittington ihn mit demselben Ziel am späten Nachmittag gebeten hatte, ihn und zwei seiner Beamten in Zivil an der Schlüsselzeremonie teilnehmen zu lassen.

„Wir wollen dem Superintendenten ja nicht auf die Nase binden, dass wir unsere eigenen Nachforschungen anstellen. Also werden wir Sie irgendwo verstecken, von wo Sie einen guten Überblick haben. Und ich weiß auch schon, wo.“

Mullins kannte nach fünfzehn Jahren Dienst im Tower alle Gebäude wie seine Westentasche und hatte ihn in der hereinbrechenden Dämmerung hinauf in den Bloody Tower geführt, in dem während der Rosenkriege im 15. Jahrhundert die jugendlichen Prinzen Edward und Richard gefangen gehalten worden waren. Zweihundert Jahre später waren die Gebeine zweier Jungen bei Grabungsarbeiten im Tower aufgetaucht. Bis heute herrscht Unklarheit darüber, ob die beiden Prinzen während der blutigen Auseinandersetzungen der Häuser Lancaster und York in ihrem Gefängnis ermordet wurden oder ihnen doch auf geheimnisvolle Art und Weise die Flucht gelungen war.

Der Lagerraum, der direkt unter den Zinnen des Bloody Towers lag, war perfekt für einen Beobachtungsposten geeignet, hatte er doch Fenster zur Water Lane und auf der entgegengesetzten Seite zum Innenhof. So konnte John die gesamte Schlüsselzeremonie verfolgen. Wenn sie nur endlich losginge!

Die Zeiger der Kirchenuhr schienen sich kaum vorwärts zu bewegen, während die Kälte trotz seiner dicken Kleidung förmlich in ihn hineinkroch. Sehnsüchtig dachte John an sein gemütliches Sofa und den spannenden Schmöker, der dort lag. Doc Hunter wäre kaum begeistert, könnte er ihn hier sehen.

„Spannen Sie die nächsten Tage mal so richtig aus. Am besten wäre es, Sie würden wegfahren. Vielleicht aufs Land, zu Ihren Eltern?“, hatte er John heute Morgen mit auf den Weg gegeben. Nachdem John dem Chief gesagt hatte, dass er ihm soweit es ihm irgend möglich war, mit internen Nachforschungen helfen würde, hatte diesen plötzlich ein schlechtes Gewissen geplagt.