„Mackenzie, ich bin wirklich äußerst dankbar, dass Sie das übernehmen, aber ist das mit Ihrem Gesundheitszustand auch vereinbar?“
„Vermutlich nicht“, hatte John grinsend geantwortet. „Aber ich möchte es trotzdem versuchen.“
Mit dem Glockenschlag 21.45 Uhr ging die Tür des Byward Towers auf und Michael Conners trat heraus, gefolgt von einer Besucherschar. John hob sein Fernglas an die Augen und ließ den Blick über die rund drei Dutzend Köpfe schweifen. Es waren jeden Abend an die vierzig Personen zur Schlüsselzeremonie zugelassen.
Ein Großteil der kostenlosen Eintrittskarten musste Monate im Voraus schriftlich bestellt werden. Spontane Besucher hatten keine Chance, noch eingelassen zu werden. Für Einladungen, die von einem der Beefeater ausgesprochen wurden, gab es ein kleines Kontingent zusätzlicher Plätze. Dies hatte es gestern Abend Richard Campbell ermöglicht, im Namen seines Vaters Parteifreunde in den Tower einzuladen. Die abendliche Abschließzeremonie war ein eindrucksvolles Erlebnis. Das Gefühl, in den historischen Mauern Zeuge eines Rituals zu sein, das seit dem Mittelalter in ununterbrochener Folge unverändert stattfand, bewegte die meisten Menschen und die Atmosphäre in der spärlich beleuchteten Water Lane tat ihr übriges. Doch heute Abend hatte eine andere Art von Erregung die Gruppe erfasst.
Die Blicke aller wanderten unablässig zum Verrätertor und auf den Gesichtern der meisten Touristen spiegelten sich wohlige Gruselschauer wider. Hätte nicht wie stets striktes Film- und Fotografierverbot geherrscht, wäre ein Blitzlichtgewitter über die Water Lane gezogen.
Im dämmrigen Licht dort unten hätte John seinen Cousin trotz des scharfen Fernglases fast nicht erkannt. Whittington hatte sich augenscheinlich alle Mühe gegeben, inkognito zu bleiben. Da er die Ermittlungen im spektakulärsten Mordfall des Jahres leitete, war sein Bild heute in der gesamten Regenbogenpresse zu sehen gewesen. Mit dem sorgfältig inszenierten Pressefoto, das ihn im perfekt geschnittenen Anzug und mit einem siegesgewissen Lächeln auf den Lippen zeigte, hatte er heute Abend kaum Ähnlichkeit. Wahrscheinlich hat er sich die ausgebeulten Hosen und die unförmige Winterjacke von seinem Sergeant ausgeliehen, mutmaßte John erheitert. Ein karierter Schal, der selbst aus der Entfernung aussah, als stammte er aus einem der Billigläden, die alles für ein Pfund verkauften, verdeckte sein Gesicht bis zur Nase.
Michael Conners behielt die Gruppe wachsam im Auge, während er vor Beginn der Zeremonie einige historische Fakten nannte und dann alle Anwesenden zur Ruhe ermahnte. Er postierte die Gruppe genau vor dem Geländer der Nische, die zum Verrätertor führte. Das war der übliche Platz für die Besucher während des ersten Teils der Zeremonie. Vor der Gruppe bezogen zwei Armeeangehörige Stellung, mit ihren traditionellen hohen Bärenfellmützen und aufgepflanzten Bajonetten.
Punkt 21.53 Uhr öffnete sich das Tor abermals. Die Silhouette von Chief Mullins zeichnete sich scharf gegen das warme Licht von drinnen ab. In der einen Hand hielt er eine Laterne, in der anderen den großen zeremoniellen Schlüsselbund. Er schritt auf das Verrätertor zu, wo er von den beiden Soldaten in Empfang genommen wurde. Gemeinsam schlossen sie die Tore des Towers feierlich für die Nacht ab. Auf dem Weg zum Queen´s House im Innenhof des Towers stellte sich ihnen vor dem Durchgang des Bloody Towers ein weiterer Wachsoldat entgegen. Nach einem kurzen Wortwechsel ließ der Soldat den Chief wie jeden Abend durch den Bloody Tower hindurch in den Innenbereich des Towers passieren und er schloss sich der Eskorte an. Nachdem die nun vierköpfige Gruppe den Durchgang passiert hatte, wurde sie im Innenhof von einer größeren Truppe Wachsoldaten in Empfang genommen.
Wie elektrisiert sprang John hoch und musste sich beherrschen, seine Nase nicht gegen die staubige Fensterscheibe zu pressen. Unten in der Water Lane führte Michael Conners die Besucher, die begierig waren, die weiteren Geschehnisse im Innenhof zu verfolgen und hinter ihm her drängten, ebenfalls durch den Durchgang des Bloody Tower. John musste nicht aus dem anderen Fenster hinaussehen, um zu wissen, was nun dort vor sich ging. Die Besucher mussten unmittelbar hinter dem Durchgang stehen bleiben, nur wenige Schritte entfernt von Chief Mullins. Von dort konnten sie beobachten, wie die Wachtruppe die Gewehre präsentierte und der Chief deklamierte, „Gott schütze Königin Elizabeth“. Exakt mit dem Schlag der Glocke antwortete die Truppe daraufhin „Amen“ und der Trompeter blies den Zapfenstreich. Chief Mullins brachte den Schlüsselbund ins Queen´s House direkt am Tower Green, wo er über Nacht aufbewahrt wurde, und die Garde war entlassen. Daraufhin wurden die Besucher wieder zurück durch den Durchgang und die Water Lane zum Ausgang geführt.
John wusste nun, wann der Mord passiert sein musste: Sobald der Chief und seine Eskorte im Durchgang verschwunden waren, hatte die ganze Gruppe nach vorne gedrängt. Der begleitende Beefeater war gezwungen, vor den Leuten her zu gehen, um sie rechtzeitig auf der anderen Seite des Bloody Towers zu stoppen. Blieb jemand aus der Besucherschar zurück, war er für einen Zeitraum von wenigen Minuten unbeobachtet. John ballte die rechte Hand triumphierend zur Faust und machte sich auf den Rückweg in seine Wohnung, um sich einen wohlverdienten heißen Tee zu gönnen.
Am nächsten Morgen fand er sich als erstes in Mullins´ Büro ein, um Bericht zu erstatten.
„Sir, ich fürchte, die Situation lässt nur einen möglichen Schluss zu“, endete er zögernd.
„Heraus mit der Sprache, Mackenzie.“
„Entweder ist der Täter jemand, der den Ablauf der Schlüsselzeremonie und die örtlichen Gegebenheiten sehr gut kennt, oder es handelt sich um eine Verzweiflungstat und derjenige hatte einfach unwahrscheinliches Glück, einen unbeobachteten Moment zu erwischen. Allerdings kann ich mir letzteres kaum vorstellen.“ Mullins hielt es nicht mehr in seinem Sessel. Er sprang auf und schritt erregt im Zimmer auf und ab.
„Wir dürfen dennoch keine Möglichkeit ausschließen. Wie wäre es damit? Jemand aus der Gruppe hatte irgendeine Verbindung zu Miss Feldmann. Rein zufällig hat er sie hier bei der Zeremonie wieder getroffen und im Affekt erwürgt.“
„Wäre es in dem Fall nicht viel einfacher gewesen, sie nach dem Verlassen des Towers zu verfolgen und in einer stillen Seitenstraße anzugreifen? Das Risiko, entdeckt zu werden, wäre doch außerhalb unserer Mauern viel geringer gewesen. Man hätte das Mädchen auch nicht innerhalb von Minuten vermisst und der Täter hätte viel leichter abtauchen können.“, wandte John ein.
„Aber das setzt voraus, dass der Täter rational dachte. Vielleicht war es eine Affekthandlung. Ich könnte mir das durchaus vorstellen. Natürlich, so könnte es gewesen sein: Das Mädchen hatte einen Mann aus der Gruppe sitzengelassen und der sah einfach rot, als er sie hier wieder traf und er rächte sich ohne Rücksicht auf Verluste. Wie wäre es denn mit einem unserer politischen Gäste? Die machen schließlich immer wieder Schlagzeilen mit irgendwelchen Affären.“
Der Chief erwärmte sich zusehends für seine Theorie. John schüttelte bedauernd den Kopf.
„Michael Conners sagte mir, Georges kleine Gruppe hätte als erstes den Innenhof betreten dürfen. Also konnte keiner von ihnen in der Water Lane zurückbleiben.“ Der Chief hatte eine neue Idee.
„Sie haben doch selbst erzählt, dass in der Besuchergruppe eine ganze Reihe von Deutschen war. Ich wette, die Polizei wird feststellen, dass einer der Männer das Mädchen vorher schon kannte.“
„Das ist natürlich möglich, Sir.“, äußerte John vorsichtig. Er konnte verstehen, warum der Chief sich verzweifelt an die Vorstellung klammerte, ein Außenstehender wäre der Schuldige.