»Laß ihn in Ruhe. Er ist ein alter Mann und ein treuer Diener Cashels«, sagte er scharf.
»Er hat eine solche Behandlung nicht verdient«, fügte Fidelma hinzu. »Er las Böses in den Sternen, weiter nichts.«
Gionga ließ die Hand verächtlich fallen. »Ein Astrologe?« Sein halblauter Pfiff klang ebenso spöttisch wie sein Tonfall.
Der alte Mönch zog seine verrutschte Kleidung mit ernster Würde zurecht.
»Sind dir die beiden Leichen gebracht worden?« fragte ihn Fidelma.
»Ich habe sie entkleidet und auf den Tisch gelegt, sie sonst aber nicht angerührt, so wie du es befohlen hattest.«
»Wenn wir fertig sind und nicht feststellen können, wer sie sind, dann kannst du sie waschen und in Leichentücher hüllen, aber wo du ihre Gräber absteckst, das weiß ich nicht.«
»Irgendwo ist immer Platz in der Erde, selbst für Sünder«, erwiderte Conchobar ernst. »Allerdings wird man nicht lange um sie klagen.«
In Irland dauerten die Begräbnisfeierlichkeiten oft zwölf Tage und Nächte, man trauerte und weinte neben dem Leichnam. Sie wurden laithi na caoinnti genannt, die Tage der Wehklage. Erst danach wurden die Leichen bestattet.
In der Apotheke stand ein großer Holztisch, mehr als breit genug für die Leichen der beiden Erschlagenen. Es war nicht das erstemal, daß Conchobar ihn zur Aufbahrung benutzte, denn oft hatte er die Pflichten des Leichenbestatters zu übernehmen. Die Leichen lagen nebeneinander und waren nackt, nur ihre Genitalien hatte der alte Mönch anstandshalber mit einem Leinentuch bedeckt.
Fidelma stellte sich an die Fußseite des Tisches, die Hände gefaltet, ihren leicht zusammengekniffenen Augen entging nichts.
Als erstes fiel ihr auf und belustigte sie auf makabre Weise, daß der eine Mann groß, dürr und fast kahl war, nur mit wenigen langen blonden Haaren im Nacken wie zum Ausgleich, während der zweite klein und füllig war mit einem dichten Schopf wirrer grauer Locken. Wie sie so nebeneinanderlagen, wirkten ihre körperlichen Unterschiede beinahe komisch. Doch die tödlichen Wunden, die Giongas Schwert ihnen geschlagen hatte, wandelten die Komik ins Groteske.
»Welcher von beiden war der Bogenschütze?« fragte Fidelma leise.
»Der Kahlköpfige«, antwortete Gionga sofort. »Der andere war sein Komplize.«
»Wo sind die Waffen, die sie führten?«
Aus einer Ecke holte Conchobar den Bogen und den Köcher mit einigen wenigen Pfeilen sowie ein Schwert herbei.
»Das hier brachten die Krieger zusammen mit den Leichen«, erklärte er.
Fidelma winkte ihm, er möge die Waffen hinlegen. »Ich sehe sie mir gleich an ...«
»Moment mal!« fuhr Gionga dazwischen. »Bring den Köcher mit den Pfeilen her.«
Bruder Conchobar blickte Fidelma an, aber sie erhob keinen Einspruch. Sie wußte, was Gionga auf dem Dach des Lagerhauses gesehen hatte, und sie hielt es nicht für klug, das hinauszuzögern, was er unweigerlich beweisen würde. Der Apotheker reichte Gionga den Köcher. Der hochgewachsene Krieger nahm wahllos einen Pfeil heraus und hielt ihn ihnen hin.
»Was meinst du, woher dieser Pfeil stammt, Tanist von Cashel?« fragte Gionga mit gespielter Harmlosigkeit.
Donndubhain nahm den Pfeil und untersuchte ihn gründlich.
»Das weißt du sehr gut, Gionga«, unterbrach Fi-delma die Prozedur, denn sie kannte sich ebenfalls mit Pfeilen aus.
»So?«
Donndubhain sah verlegen aus.
»Die Lenkfedern tragen die Kennzeichen des Volkes unseres Vetters, der Eoghanacht von Cnoc Äine.«
»Genau«, schnurrte Gionga sanft. »Alle Pfeile im Köcher des Attentäters tragen die Kennzeichen der Pfeilschmiede von Cnoc Äine.«
»Hat das was zu bedeuten? Schließlich ...« Fidelma schaute den Krieger unschuldig an, »... kann man Pfeile leicht erwerben.« Sie holte ein kleines Messer aus ihrem marsupium, dem Tragebeutel. »Dieses Messer wurde in Rom hergestellt. Ich kaufte es dort auf einer Pilgerfahrt. Deshalb bin ich noch keine Römerin.«
Gionga wurde rot vor Ärger und stieß den Pfeil zurück in den Köcher.
»Versuch nicht, mich zu veralbern, Schwester Colgüs. Die Herkunft der Pfeile ist klar. Ich werde das in meinem Bericht an meinen Fürsten erwähnen.«
Donndubhain errötete bei dieser direkten Beleidigung seiner Kusine. »Es gibt nur eine dalaigh unter uns, Gionga, und sie wird den Bericht erstatten«, fuhr er ihn an.
Gionga bleckte höhnisch die Zähne.
Fidelma achtete nicht auf ihn, nahm den Köcher und untersuchte ihn. Von den Kennzeichen auf den Lenkfedern der Pfeile abgesehen, unterschied er sich in nichts von Hunderten anderer solcher Köcher. Sie ließ sich von Conchobar den Bogen reichen. Er war gut und solide gearbeitet und wies keine Besonderheiten auf. Dann nahm sie sich das Schwert vor. Es war von schlechter Qualität, rostete an den Verbindungsstellen und war nicht einmal geschärft. Der Griff war auf eigenartige Weise mit geschnitzten Tierzähnen verziert. Fidelma hatte Schwerter in diesem Stil schon gesehen - sie wurden claideb det genannt und ihres Wissens nur in einer Gegend Irlands hergestellt, sie konnte sich aber nicht erinnern, in welcher.
»Also, Gionga«, meinte sie schließlich, »die Waffen haben wir nun untersucht. Bist du soweit zufrieden?«
»Insofern wir die Herkunft der Pfeile festgestellt haben - ja!« erwiderte der Krieger.
Plötzlich öffnete sich die Tür, und Bruder Eadulf kam herein. Er blieb höflich auf der Schwelle stehen.
»Ich hörte, ihr wollt die Leichen untersuchen«, sagte er etwas atemlos. Offenbar war er schnell gelaufen.
Fidelma fragte ihn besorgt: »Wie geht es meinem Bruder . und Fürst Donennach?«
»Recht gut. Es besteht keine Lebensgefahr, aber sie werden noch ein paar Tage Schmerzen haben. Mach dir keine Sorgen, ihre Wunden sind verbunden, und sie sind in guter Pflege.«
Fidelma lächelte beruhigt. »Du kommst gerade zur rechten Zeit, Eadulf. Ich kann deine kundigen Augen brauchen.«
Gionga protestierte ärgerlich: »Der Fremde hat hier nichts zu suchen.«
»Dieser Fremde«, erwiderte Fidelma in gemessenem Ton, »ist Gast meines Bruders und hat in Tuaim Bre-cain die ärztliche Kunst erlernt. Seine geschickte Behandlung hat wahrscheinlich deinen Fürsten vor Schlimmerem bewahrt. Außerdem benötigen wir seinen erfahrenen Blick bei der Untersuchung dieser beiden Leichen.«
Giongas Miene zeigte seine Mißbilligung, aber er erhob keine weiteren Einwände.
»Komm näher, Eadulf, und erkläre uns, was du siehst«, forderte Fidelma ihn auf.
Eadulf trat an den Tisch. »Zwei Männer, der eine klein, der andere groß. Der Große .« Eadulf beugte sich vor und betrachtete ihn genauer. »Der Große starb an einer einzigen Wunde, anscheinend einem Schwertstoß zum Herzen.«
Gionga lachte spöttisch. »Das hätte ich dir auch sagen können, denn den Stoß führte meine Hand.«
Eadulf beachtete ihn nicht. »Der andere Mann, der Kleine, starb an drei Hieben. Er wandte dem Angreifer den Rücken zu, als dieser zuschlug. Die Halswunde sieht gefährlich aus. Die Stichwunde unter dem Schulterblatt halte ich nicht für tödlich, doch außerdem wurde ihm noch der Hinterkopf eingeschlagen, wahrscheinlich mit dem Schwertgriff. Ich nehme an, der Mann flüchtete und wurde von jemandem aus höherer Position niedergehauen, vermutlich einem Reiter.«
Fidelma sah den Krieger der Ui Fidgente durchdringend an. In ihrem stummem Blick lag ein Vorwurf. Gionga schob trotzig das Kinn vor.
»Es ist gleichgültig, wie ein Feind erschlagen wird, wenn man ihn nur als Bedrohung ausschaltet.«
»Hast du nicht gesagt, der Mann hätte dich mit dem Schwert bedroht?« fragte Fidelma ruhig.
»Zuerst«, fauchte Gionga. »Als ich dann seinen Gefährten niederschlug, lief er davon.«
»Und du hast ihn nicht gefangengenommen?« Jetzt wurde Fidelmas Ton scharf. »Du mußtest ihn töten, obwohl er uns wertvolle Auskünfte über den Anschlag hätte geben können?«