»Eadulf ist ein guter Mann. Auch ein langsamer Jagdhund hat seine Vorteile«, zitierte sie ein altes Sprichwort.
»Das stimmt. Aber nimm dich vor diesem Ui Fid-gente Gionga in acht. Der gefällt mir gar nicht. Mir ist er verdächtig.«
»Da bist du nicht der einzige, Vetter«, lächelte Fi-delma. »Hab keine Angst. Ich sehe mich vor.«
»Wenn du unseren Vetter Finguine von Cnoc Äine siehst, bestell ihm Grüße von mir.«
»Das mache ich.« Fidelma wollte schon zu den Ställen gehen, wandte sich aber noch einmal um. »Hast du gesagt, daß dieser Kaufmann Samradan auf Handelsreise in der Abtei Imleach ist?«
»Ja. Er tätigt dort oft Geschäfte. Aber die Attentäter haben sich das Dach seines Lagerhauses sicher rein zufällig ausgesucht. Er kann mit der Sache nichts zu tun haben.«
»Ich glaube, das sagtest du schon mal. Bist du Kunde bei ihm?«
»Ja, ich habe ein paar silberne Schmuckstücke von ihm gekauft.« Er berührte seine Silberspange. »Warum?«
»Ich kenne den Mann nicht. Stammt er von hier?«
»Er wohnt hier seit ein paar Jahren. Wie lange genau, weiß ich nicht, auch nicht, wo er herkommt.«
»Es ist nicht wichtig«, meinte Fidelma. »Wie du schon sagst, er kann mit der Sache nichts zu tun haben. Jetzt muß ich fort. Wir sehen uns alle in neun Tagen wieder.«
Donndubhain hielt die Papiere hoch und lächelte.
»Wir passen auf deinen Bruder auf, bis du zurück bist. Das verspreche ich dir. Sichere Reise, Kusine, und komm bald wieder.«
Die Wolken, die am Vormittag den Himmel bedeckten, hatten sich gelichtet. Nun trieben nur noch lockere weiße Schäfchenwolken langsam im Himmelsblau dahin und ließen ab und zu die Nachmittagssonne durch, die die Wiesen erwärmte. Es wehte eine leichte Brise, doch die Luft war angenehm und mild.
Fidelma und Eadulf hatten eine Gabelung des Flusses Suir ungefähr vier Meilen westlich von Cashel erreicht. Dort führte eine Holzbrücke über den schnell dahinströmenden Wasserlauf. Sie stützte sich auf eine kleine Insel in der Mitte des Flusses, die auch eine winzige befestigte Ansiedlung trug, die diesen Zugang nach Cashel deckte. Sie war jetzt nicht bewohnt, denn seit vielen Jahren hatte sich kein feindliches Heer mehr der Hauptstadt der Eoghanacht so weit genähert. An beiden Enden der Brücke bedeckte Wald die Ufer des Flusses. Soviel Eadulf wußte, war dies die einzige Straße von Cashel nach Westen. Jenseits des Flusses kreuzte sie die großen Straßen nach Norden und Süden.
Fidelma ritt ihre weiße Stute aus dem Stall ihres Bruders, Eadulf folgte ihr auf einem jungen Rotfuchs. Mitten auf der Brücke parierte Fidelma ihr Pferd.
»Was ist?« fragte Eadulf.
Fidelma hatte eine Bewegung in der Befestigung erspäht. Dort, wo die Brücke die Insel erreichte, traten zwei Bogenschützen mit gespannten Bogen aus dem Schatten der Bäume. Ihre Pfeile waren auf sie gerichtet. Ein dritter Krieger, dessen Schild das Wappen eines aufgerichteten Ebers trug, stellte sich zwischen die Bogenschützen, das Schwert lässig in der rechten Hand, doch sorgfältig darauf bedacht, den Schützen nicht das Schußfeld zu versperren.
Fidelma kniff die Augen zusammen.
»Paß auf, Eadulf«, sagte sie leise. »Der Krieger trägt das Wappen der Ui Fidgente.«
Sie ritt ein paar Schritte vor.
»Halt!« rief der Krieger in der Mitte und hob das Schwert. »Keinen Schritt weiter!«
»Wer erteilt hier Befehle auf dieser Brücke in Sicht des Palasts des Königs von Cashel?« fragte sie zornig.
Der Krieger lachte grimmig. »Einer, der Leute daran hindert, sie zu passieren, Schwester«, erwiderte er spöttisch.
»Laß dir sagen, daß ich eine dalaigh bin und du kein Recht hast, mir den Übergang zu verweigern«, rief sie verärgert.
Der Mann änderte seine Haltung nicht. »Ich weiß sehr wohl, wer du bist, Schwester Colgüs. Und ich kenne auch den Lümmel von Angelsachsen da neben dir.«
»Wenn du das weißt, Ui Fidgente, dann mußt du auch wissen, daß du kein Recht hast, eine offene Straße in diesem Königreich zu sperren.«
Der Krieger wies auf die Bogenschützen neben ihm. »Die geben mir das Recht.«
»Und wer gibt dir den Befehl dazu?«
»Lord Gionga, der Kommandeur der Leibwache des Fürsten Donennach. Niemand passiert diese Brücke bis zur Verhandlung in Cashel. So lautet der Befehl meines Herrn, um neue Verschwörungen gegen den Fürsten der Ui Fidgente zu verhindern.«
Fidelma überlegte sehr schnell. Also hatte Gionga eine Wache aufgestellt, damit sie nicht nach Imleach gelangen konnte? Über die Brücke führte der einzige kurze Weg nach Imleach. Woher wußte Gionga von ihrer Reise und warum wollte er sie vereiteln? Was für Entdeckungen hatte er zu fürchten?
»Die Brücke ist für euch gesperrt«, erklärte der Krieger ohne weitere Begründung. »Reitet zurück nach Cashel.«
»Die Wache meines Bruders wird diese Barriere bald öffnen«, entgegnete sie.
Mit ausdrucksvoller Pantomime schaute der Krieger in alle Richtungen. »Ich sehe nichts von der Wache deines Bruders«, spottete er.
Fidelma hatte sich nicht nur die Bogenschützen und ihren Kommandeur genau angesehen, sondern auch bemerkt, daß sich anscheinend mehr als ein Dutzend andere Krieger der Ui Fidgente in der Befestigung aufhielten. Es hatte keinen Zweck, sich weiter mit ihnen zu streiten.
Sie wendete ihre Stute vorsichtig auf der Brücke und ritt im Schritt zurück zu Eadulf. Die Hufe klangen auf den Holzbohlen wie Trommelschlag.
»Folge mir«, sagte sie leise. »Hast du alles gehört, was zwischen mir und dem Krieger der Ui Fidgente gesprochen wurde?«
Eadulf bestätigte das und ritt ihr widerspruchslos nach. Er hatte ein unbehagliches Gefühl in seinem Rücken, den er den schußbereiten Bogenschützen als Ziel darbot.
»Das scheint die Annahme zu bestätigen, daß es sich um eine Verschwörung der Ui Fidgente handelt«, flüsterte er, als sie außer Reichweite waren. »Gionga will wohl mit allen Mitteln verhindern, daß wir in Cnoc Äine nach Beweisen suchen. Damit ist seine Schuld eigentlich schon erwiesen.«
»Das ist es eben, was mir Sorgen macht. Gionga muß doch wissen, daß es nicht lange dauern würde, bis unsere Krieger in Cashel alarmiert werden und die Männer hier verjagen. Die logische Folgerung wäre, daß die Ui Fidgente mit diesem Vorgehen ihre Schuld eingestanden haben.«
»Nun, sie haben jedenfalls eins erreicht, daß wir nämlich heute abend nicht mehr nach Imleach gelangen. Es sind vier Meilen zurück nach Cashel.«
»Wir werden heute abend dort sein«, erklärte Fi-delma fest und zuversichtlich. »Wenn wir die Wegbiegung dort passiert haben und außer Sicht der Männer auf der Brücke sind, kommen wir an einen Weg, der rechts abgeht und nach Süden führt. Den schlagen wir ein.«
»Nach Süden? Ich dachte, das wäre meilenweit die einzige Brücke über den Fluß?«
Fidelma kicherte. »Das ist sie auch.«
»Also dann ...?«
»Rasch, hier ist der Weg.«
Mit der Bezeichnung Weg tat man ihm zuviel Ehre. Es war nichts weiter als ein schmaler Pfad, den ein Pferd mit Mühe beschreiten konnte, wobei es an jeder Seite Büsche und Zweige streifte. Er führte mitten in den dichten Waldstreifen am Ufer des Flusses hinein.
»Was jetzt?« fragte Eadulf, als er sein junges Pferd in die dunkle Pflanzenwirrnis hineintrieb.
»Ungefähr eine halbe Meile weiter südlich kommen wir aus dem Wald heraus in offenes Bruchland. Ich gehe voran, denn dort müssen wir unsere Pferde führen. Noch eine halbe Meile weiter südlich erreichen wir eine Furt, die nicht viele Leute kennen. Sie heißt Atha Asail, die Eselsfurt. Der Übergang ist schwierig, aber wir schaffen es schon. Dadurch verzögert sich unsere Reise kaum.«
»Bist du sicher, daß das der beste Weg ist?« jammerte Eadulf und dachte an die strudelnden Wasser des schnellen Flusses. Er hatte zwar schon zahllose gefährliche Situationen gemeistert, aber er suchte die Gefahr nicht. Er glaubte nicht an das angelsächsische Sprichwort, daß Gefahr und Vergnügen auf demselben Stengel wachsen. Eadulf hielt es mehr mit Lucretius: Er fand es angenehm, wenn Stürme die Wogen aufwühlten, vom sicheren Land aus die Gefahren anderer zu betrachten.