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Der Marktplatz war offensichtlich das freie Gelände direkt vor den Toren der Abtei. Auf der entgegengesetzten Seite sah man eine Reihe von Gebäuden, die wohl die Stadt bildeten. Die beiden anderen Seiten waren spärlich bebaut, deshalb schien der Marktplatz zu groß. In der Mitte des freien Platzes stand eine mächtige Eibe, über zwanzig Meter hoch, deren dunkelbraunes Holz und grüne gebogene Nadeln wie eine ehrwürdige Skulptur wirkten. Sie überragte selbst die grauen Mauern der Abtei.

»Na, das ist ein Baum, vor dem man Respekt haben muß«, meinte Eadulf, der sein Pferd gezügelt hatte und ihn betrachtete.

Fidelma wandte sich im Sattel um und lächelte ihrem Begleiter zu. »Weshalb sagst du das, Eadulf? Kennst du diesen Baum?«

»Kennen? Nein, ich sage das nur wegen seiner Größe und seines Alters.«

»Das ist der heilige Totembaum der Eoghanacht. Davon habe ich dir in Cashel erzählt.«

»Ein Totembaum! Was für eine alberne heidnische Vorstellung.«

»Was ist denn das Kruzifix anderes als ein Totem? Jeder Clan und jede Sippe besitzen einen heiligen Baum des Lebens, wie wir ihn nennen. Dies hier ist unserer. Wenn ein neuer König der Eoghanacht in sein Amt eingeführt wird, muß er hierherkommen und unter der großen Eibe den Eid ablegen.«

»Der Baum muß bestimmt ein paar hundert Jahre alt sein.«

»Über tausend Jahre«, erklärte Fidelma stolz. »Er soll von Eber Fionn, dem Sohn des Milesius, von dem die Eoghanacht abstammen, mit eigener Hand gepflanzt worden sein.«

Die Dunkelheit brach herein, und sie hörten das ferne Geheul der Wölfe und das Bellen und Winseln der Wachhunde, die für die Nacht hinausgelassen wurden, und ritten weiter zum Tor der Abtei.

Fidelma parierte ihre Stute und zog an dem Seil, das neben dem Tor hing. Innen erklang das dumpfe Anschlagen einer Glocke.

Eine Holzplatte hinter dem Metallgitter in einem der Torflügel wurde geräuschvoll zurückgeschoben. Ein Stimme rief: »Wer läutet zu dieser Stunde die Glocke der Abtei?«

»Fidelma von Cashel begehrt Einlaß.«

Sofort schien eine lebhafte Geschäftigkeit hinter dem Tor einzusetzen. Die Holzplatte flog mit einem Knall zu. Riegel wurden lärmend zurückgezogen, ihr Metall quietschte. Dann schwangen die hohen hölzernen Torflügel langsam nach innen.

Bevor Fidelma oder Eadulf sich in Bewegung setzen konnten, kam eine weißhaarige Gestalt auf sie zugerannt.

Eadulf hatte Abt Segdae schon ein paarmal gesehen.

Aus Cashel hatte er den Prälaten als einen hochgewachsenen, würdevollen Mann von ruhiger Autorität in Erinnerung. Doch der Mann, der jetzt zur Begrüßung auf sie zueilte, schien zerzaust und wie von Sinnen. Seine sonst so heiteren, scharfgeschnittenen Züge wirkten ausgezehrt. Er bleib an Fidelmas Sattel stehen und starrte zu ihr empor wie ein Gläubiger, der an einem Schrein Trost sucht.

»Gott sei Dank! Du bist die Antwort auf unsere Gebete, Fidelma! Gott sei dafür gedankt, daß du gekommen bist!«

Kapitel 8

Bruder Eadulf streckte sich behaglich in seinem Sessel vor dem wärmenden Feuer im persönlichen Zimmer des Abts von Imleach. Er fühlte sich immer noch müde und steif. Eadulf liebte anstrengende Reisen nicht, und wenn auch der Ritt von Cashel nach Imleach verhältnismäßig kurz gewesen war, so war er doch beschwerlich gewesen. Mit Genuß nippte er an dem Becher roten Glühwein, den Abt Segdae angeboten hatte. Dankbar sog er den Duft ein. Wer auch den Wein für die Abtei einkaufen mochte, er verstand etwas davon.

Ihm gegenüber an der anderen Seite des großen Kamins saß Fidelma. Sie hatte ihren Wein noch nicht angerührt, beugte sich etwas im Sessel vor, die Hände im Schoß, und starrte tief in Gedanken auf die funkensprühenden Scheite. Der Abt saß zwischen ihnen direkt vor dem Feuer.

»Ich betete um ein Wunder, Fidelma, und dann hörte ich, daß du vor dem Tor der Abtei standest.«

Fidelma riß sich von ihrem Nachdenken los.

»Ich habe volles Verständnis für deine Notlage, Segdae«, sagte sie schließlich. Es war ihre erste Äußerung, seit Abt Segdae ihr und Eadulf erklärt hatte, daß die Reliquien des heiligen Ailbe samt ihrem Bewahrer, Bruder Mochta, verschwunden waren. Sie hatte zwar diese Reliquien nie gesehen, kannte aber natürlich ihre Bedeutung. »Doch in erster Linie muß ich die Frage der Schuld an dem Mordversuch in Cashel klären. Dafür stehen mir nur neun Tage zur Verfügung.«

Abt Segdaes Gesicht zog sich vor Entsetzen in die Länge. Fidelma hatte ihm bereits berichtet, wie die Dinge in Cashel lagen. Es gab keine Schranken der Konvention zwischen dem Abt und der Schwester des Königs. Segdae hatte als Priester im Dienst ihres Vaters gestanden und kannte Fidelma von ihrer Kindheit an.

»Das hast du mir erzählt. Aber, Fidelma, du weißt genausogut wie ich, daß der Verlust der Reliquien des heiligen Ailbe unser ganzes Volk in Furcht versetzen wird. Ihr Verschwinden kündigt den Untergang des Königreichs Muman an. Wir haben Feinde genug, die sich dieses Unglück zunutze machen werden.«

»Diese Feinde haben schon versucht, meinen Bruder und den Fürsten der Ui Fidgente zu ermorden. Sobald ich das geklärt habe, Segdae, das verspreche ich dir, werde ich mich um diese Angelegenheit kümmern. Es ist mir vielleicht mehr als anderen bewußt, welche Bedeutung die Reliquien des heiligen Ailbe besitzen.«

Eadulf setzte seinen Becher ab.

»Du meinst also nicht, daß diese beiden Ereignisse irgendwie in Verbindung stehen?« fragte er nachdenklich.

Fidelma sah ihn überrascht an.

Gelegentlich war Eadulf dazu fähig, das Nächstliegende festzustellen, das die anderen übersahen.

»Eine Verbindung zwischen dem Verlust der heiligen Reliquien und dem Mordversuch an meinem Bruder ...?« Sie verzog das Gesicht und überlegte. Es war richtig, was der Abt gesagt hatte, daß nämlich das Volk von Muman glaubte, die Reliquien des heiligen Ailbe beschützten das Wohl des Königreichs. Ihr Verlust würde zu Beunruhigung und Verzweiflung führen. Sollte der gleichzeitige Mordversuch ein bloßer Zufall sein? »Es könnte eine Verbindung bestehen«, gab sie zu. »Wie könnte man ein Königreich leichter stürzen, als wenn man gleich zu Anfang das Volk entmutigt und den König ermordet?«

»Und vergiß nicht, daß einer der Attentäter ein früherer Mönch war«, erinnerte sie Eadulf. »Er könnte von der Bedeutung der Reliquien gewußt haben.«

Abt Segdae fuhr auf, denn davon hörte er zum erstenmal.

»Willst du damit sagen, daß ein Geistlicher die Waffe gegen den König erhob? Wie könnte das geschehen? Daß ein Mann des Glaubens zum Mörder würde ... Das ist unvorstellbar!« Ihm schienen die Worte zu fehlen.

Eadulf antwortete mit einer gelassenen Geste. »Es wäre nicht das erste Mal, wie man weiß.«

»Aber nicht in Muman«, betonte Segdae. »Wer war dieser Sproß des Satans?«

»Er stammte zweifellos nicht aus unserem Königreich«, erwiderte Fidelma und kostete zum erstenmal von ihrem Wein. »Aona, der Herbergswirt am Brunnen von Ara, meint, er habe mit nördlichem Akzent gesprochen.«

Eadulf stimmte ihr zu. »Wir können mit Sicherheit annehmen, daß er aus dem Norden kam. Selbst die merkwürdige Vogeltätowierung auf seinem Unterarm wird nur an der Nordostküste vorgenommen und ist im Süden ganz unbekannt. Also stammt der Mönch nicht aus dieser Gegend.«

Abt Segdae schien plötzlich in seinem Sessel erstarrt. Er war sichtlich blaß geworden und wirkte noch hagerer als sonst. Er sah Fidelma mit beinahe entsetzter Miene an. Mehrmals setzte er zum Sprechen an, ehe die Worte aus seiner trockenen Kehle kamen.

»Hast du gesagt, der Attentäter hatte einen Vogel auf dem Unterarm eintätowiert? Und er sprach mit nördlichem Akzent?«

Fidelma bestätigte das und wunderte sich, was in den alten Abt gefahren war.