»Da hast du wohl recht«, gab der Verwalter zu. »Darf ich dir sagen, daß du unsere Sprache gut sprichst?«
Eadulf hatte sich zur Probe auf das Bett gesetzt. »Ich habe in Durrow und Tuaim Brecain studiert.«
Madagan war überrascht. »Trotzdem trägst du die Tonsur eines Ausländers?«
»Ich trage die Tonsur des heiligen Petrus«, verbesserte ihn Eadulf mit Bestimmtheit, »so wie sie zum Gedenken an die Dornenkrone unseres Heilands geschnitten wird.«
»Aber das ist nicht die Tonsur, die wir in den fünf Königreichen tragen oder die Briten oder die Männer von Alba und Armorica.«
»Es ist die Tonsur aller derer, die der Regel Roms folgen.«
Bruder Madagan zog eine säuerliche Miene. »Du bist stolz auf deine Tonsur, Edler Wolf der Angelsachsen«, bemerkte er.
»Ich möchte keine andere tragen.«
»Natürlich nicht. Nur wirkt sie auf die Brüder hier absonderlich.«
Eadulf wollte das Gespräch schon abbrechen, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. »Aber du mußt sie doch schon oft gesehen haben«, entgegnete er langsam.
Bruder Madagan goß gerade Wasser zum Händewaschen in eine Schüssel. Er wandte sich zu Eadulf um und schüttelte den Kopf. »Die Tonsur des heiligen Petrus? Das kann ich nicht sagen. Ich habe Im-leach kaum jemals verlassen, bin hier in der Nähe am Hang des Cnoc Loinge geboren, im Süden von hier. Sie nennen ihn den Schiffsberg, weil er die Form hat.«
»Wenn du sie noch nie gesehen hast, wie würdest du dann die Tonsur Bruder Mochtas beschreiben?« wollte Eadulf wissen.
Bruder Madagan zuckte verwundert die Achseln. »Wie ich die beschreiben würde?« wiederholte er langsam. »Ich verstehe dich nicht.«
Eadulf stampfte beinahe mit dem Fuß auf vor Ärger. »Wenn meine Tonsur dir seltsam vorkommt, dann könntest du doch sicher etwas dazu sagen, daß Bruder Mochta dieselbe Tonsur trug, bis er vor kurzem sein Haar wieder wachsen ließ?«
Nun war Bruder Madagan völlig verwirrt. »Aber Bruder Mochta trug doch keine Tonsur wie deine, Bruder Edler Wolf.«
Eadulf bezwang seinen aufsteigenden Zorn und erklärte: »Bruder Mochta trug, soviel ich weiß, die Tonsur des heiligen Petrus bis vor ein paar Wochen.«
»Da irrst du dich, Edler Wolf. Bruder Mochta trug die Tonsur des heiligen Johannes, die wir hier alle tragen, den Kopf rasiert bis zu einer Linie von Ohr zu Ohr, damit man die Dornenkrone sehen kann, wenn man einen Bruder anblickt.«
Nun war die Reihe an Eadulf, völlig verwirrt zu sein. Er setzte sich auf sein Bett.
»Damit ich dich ganz richtig verstehe, Bruder Ma-dagan. Willst du mir sagen, daß Bruder Mochta nicht so eine Tonsur trug wie ich?«
»Ganz bestimmt nicht«, bekräftigte Bruder Mada-gan.
»Und er ließ auch nicht sein Haar wachsen, um sie zu verdecken?«
»Noch viel weniger. Jedenfalls war es so, als ich ihn gestern abend beim Vespergebet sah. Er trug die Tonsur des heiligen Johannes.«
Eadulf saß da und starrte ihn an, während ihm aufging, was der Mann da sagte.
Wer der erschlagene Mönch in Cashel auch sein mochte, trotz der passenden Beschreibung bis hin zur Tätowierung konnte er nicht Bruder Mochta von Im-leach sein. Er konnte es wirklich nicht sein. Aber wie war so etwas möglich?
Kapitel 9
Fidelma betrachtete Eadulf über den Tisch im Speisesaal hinweg, an dem sie ihr Frühstück einnahmen, mit einem leichten Lächeln.
»Dieses Geheimnis um Bruder Mochta beunruhigt dich anscheinend«, bemerkte sie und brach sich ein Stück Brot von dem Laib vor ihr ab.
Eadulf riß verblüfft die Augen auf. »Dich etwa nicht? Das grenzt doch an ein Wunder. Wie kann es denn derselbe Mann sein?«
»Beunruhigt bin ich nicht. Sagte nicht schon der Römer Tacitus, daß das Unbekannte immer für das Wunderbare gehalten wird? Sobald also diese Sache nicht mehr unbekannt ist, hört sie auch auf, wunderbar zu erscheinen.«
»Meinst du damit, daß es eine logische Erklärung für dieses Geheimnis geben muß?«
Fidelma sah ihn vorwurfsvoll an. »Gibt es die nicht immer?«
»Na, ich sehe keine«, erwiderte Eadulf und schob das Kinn vor. »Für mich riecht das nach Zauberei.«
»Zauberei!« spottete Fidelma. »Wir haben schon mit anderen Geheimnissen zu tun gehabt und keins dabei gefunden, das sich nicht von uns ergründen ließ. Denk daran, Eadulf, vincit quipatitur.«
Eadulf neigte den Kopf, um seinen Ärger zu verbergen. »Gewiß kommt man mit Geduld ans Ziel, aber wir haben noch nie vor solch einem Rätsel gestanden.« Er blickte auf und sah Bruder Madagan kommen. Leise sagte er: »Das ist der Bruder, der Alarm schlug, als Mochta verschwunden war. Er ist der Verwalter der Abtei, Bruder Madagan.«
Der hochgewachsene Mönch trat lächelnd zu ihnen.
»Ein schöner Morgen«, sagte er, setzte sich und stellte sich Fidelma vor. »Ich bin der rechtaire der Abtei und heiße Madagan. Ich habe schon viel von dir gehört, Fidelma von Cashel.«
Fidelma erwiderte den forschenden Blick des Mannes und stellte sofort fest, daß sie ihn nicht mochte, wenngleich sie nicht hätte sagen können, weshalb. Er hatte ein freundliches, etwas kantiges und hageres Gesicht, in dem nichts abstoßend wirkte. Auch seine Art war zuvorkommend. Sie konnte sich ihre Abneigung nicht erklären.
»Guten Morgen, Bruder Madagan.« Höflich neigte sie den Kopf. »Wie ich hörte, hast du als erster festgestellt, daß die heiligen Reliquien fehlten?«
»Ja, das war so.«
»Was waren die näheren Umstände dabei?«
»Es war der Feiertag des heiligen Ailbe, also stand ich früh auf, denn an dem Tag ...«
»Ich kenne die Ordnung des Feiertages«, unterbrach ihn Fidelma rasch.
Bruder Madagan blinzelte.
In dem Moment erkannte Fidelma, was ihn ihr unangenehm gemacht hatte. Wenn er blinzelte, senkten sich seine Augenlider schwer und bedächtig und blieben den Bruchteil einer Sekunde geschlossen, bevor sie sich wieder hoben. Es war, als verhüllten sie die Augen, wie bei einem Habicht. Ihr wurde klar, daß sie kalt waren trotz der Maske der Freundschaft. Die Persönlichkeit hinter diesem Gesicht blieb verborgen und war nur mit äußerstem Scharfblick zu durchschauen.
»Nun gut«, fuhr er fort, »es gab viel zu tun mit den Vorbereitungen .«
»Sag mir, wie du festgestellt hast, daß die heiligen Reliquien fort waren.«
Diesmal ließ sich Bruder Madagan von ihrem scharfen Einwurf nicht beirren.
»Ich ging zur der Kapelle, in der die heiligen Reliquien aufbewahrt wurden«, antwortete er ruhig.
»Du bist aber nicht der Bewahrer der Reliquien des heiligen Ailbe. Warum gingst du hin?« Ihre Stimme war sanft, aber die Frage bohrend.
»Weil ich Nachtwache hatte. Da gehörte es zu meinen Pflichten, die Runde zu machen und zu sehen, daß in der Abtei alles in Ordnung ist.«
»Ich nehme an, du fandest, daß alles in Ordnung war?«
»Anfangs schon .«
»Bis du zur Kapelle kamst?«
»Ja. Da fiel mir auf, daß das Reliquar nicht in seiner Nische stand.«
»Wann war das?«
»Ungefähr eine Stunde vor Sonnenaufgang.«
»Wann hatte man das Reliquar zuletzt an seinem Platz gesehen?«
»Beim Vespergebet. Da haben es alle gesehen. Bruder Mochta war auch da.«
Eadulf hüstelte leicht, bevor er fragte: »Was genau enthielt dieses Reliquar?«
Bruder Madagan machte eine weit ausholende Handbewegung. »Die Reliquien unseres geliebten heiligen Ailbe.«
»Nein, so meine ich das nicht. Was gehörte alles zu diesen Reliquien? Wir wissen nur, daß das Kruzifix, das er aus Rom mitbrachte, darunter war.«
»Ach so, ich verstehe.« Bruder Madagan lehnte sich nachdenklich zurück. »Außer dem Kruzifix gehörten dazu sein Bischofsring, sein Messer, ein von seiner eigenen Hand geschriebenes Exemplar des Gesetzes Ailbes und seine Sandalen. Ach, und dann natürlich sein Kelch.«