»Ist es hier üblich, daß die Leute wissen, was sich in einem Reliquar befindet?« fragte Eadulf plötzlich. »In vielen Kirchen, die Reliquien von Heiligen besitzen, ist das Reliquar geschlossen, damit niemand die Stük-ke sehen kann.«
Bruder Madagan lächelte. »In diesem Fall wissen die Leute, was im Reliquiar ist, Edler Wolf der Angelsachsen«, scherzte er. »Der Inhalt wird jedes Jahr bei der Feiertagszeremonie gezeigt und von der Kapelle zu Ailbes heiligen Brunnen getragen, wo er gesegnet wird, und von dort zu dem Stein, der sein Grab bezeichnet.«
»Ihr materieller Wert war nicht sehr hoch, von dem Kruzifix abgesehen?« forschte Eadulf.
»Das Kruzifix und der Ring sind ein Vermögen wert«, erwiderte Madagan. »Der Ring ist aus Gold und mit einem Edelstein besetzt, der Smaragd heißt, ein seltsamer grüner Stein, der in Ägypten gefunden wird und den die Chaldäer verarbeitet haben sollen. Dieser Ring war ein Geschenk von Zosimus an Ailbe, wie auch das Kruzifix. Das ist aus Silber, aber ebenfalls mit Smaragden besetzt.«
»Also war der materielle Wert doch hoch?« beharr-te Eadulf.
»Ziemlich hoch, aber gering im Vergleich zu dem symbolischen Wert dieser Reliquien für unsere Abtei und das Königreich Muman.«
»Diese Bedeutung der Reliquien habe ich Bruder Eadulf schon erklärt«, bestätigte Fidelma.
Bruder Madagan senkte den Kopf. »Dann wirst du verstehen, Edler Wolf, daß die Wiedererlangung des Reliquars und der heiligen Reliquien für das Wohl unseres Königreichs unerläßlich ist. Unsere Menschen glauben an Symbole. Deshalb befürchten sie, daß der Verlust der Reliquien Unheil über unser Land bringen würde.«
»War der Kelch wertvoll?« fragte Eadulf.
»Er ist aus Silber und mit Halbedelsteinen besetzt. Ja, er hat großen materiellen Wert.«
»Wer in der Abtei weiß vom Verschwinden der Reliquien?« erkundigte sich Fidelma.
»Vor denen, die in der Abtei wohnen, haben wir es leider nicht geheimhalten können. Schließlich war gestern der Tag, an dem sie den Brüdern hätten gezeigt werden sollen. Der Abt bemüht sich zwar, die Kunde nicht über die Mauern der Abtei hinausgelangen zu lassen, aber das wird nicht lange gelingen. Die Pilger brechen heute vormittag zur Küste auf. Sie werden zweifellos darüber reden. Dann ist da dieser Kaufmann aus Cashel mit seinen Gehilfen. Die halten auch nicht den Mund. Ich meine, in einer Woche wird es sich im ganzen Königreich herumgesprochen haben, vielleicht sogar in ganz Eireann. Eine gefährliche Zeit bricht an für unser Volk.«
Fidelma wußte sehr wohl, was das hieß. Es gab viele Neider, die den Sturz der Eoghanacht von Cashel begrüßen würden. Insbesondere, das mußte sie zugeben, Donennach von den Ui Fidgente. Ihm täte es nicht leid, wenn das Königreich zerfiele. Wenn das Volk durch den Verlust der Reliquien entmutigt wurde, sich in sein Schicksal ergab und keinen Willen zur Verteidigung aufbrachte, dann mußte Cashel mit Angriffen von außen und Umsturz im Innern rechnen. Plötzlich spürte sie die Last der Verantwortung auf ihren Schultern. Wenn sie dieses Rätsel nicht löste, und zwar bald löste, konnte das für Cashel zur Katastrophe führen.
»Als du nun sahst, daß das Reliquar fehlte, was tatest du da?« fragte sie.
»Ich ging sofort zum Abt und weckte ihn«, antwortete Bruder Madagan.
»Du wecktest sofort Abt Segdae? Warum?«
Bruder Madagan schaute sie verständnislos an. »Warum?« wiederholte er.
»Ja. Warum gingst du nicht Bruder Mochta wek-ken? Schließlich war er doch der Bewahrer der Reliquien?«
»Ach so! Im nachhinein erscheint die Frage logisch. Der Abt hat sie mir auch schon gestellt. Ich muß gestehen, daß ich unter dem Schock meiner Entdeckung nicht logisch gehandelt habe. Ich dachte, als ersten müßte ich den Abt benachrichtigen.«
»Nun gut. Was geschah dann?«
»Der Abt meinte, wir sollten Bruder Mochta holen. Wir gingen zu seiner Zelle und stellten fest, daß er verschwunden war. Die Zelle war durchwühlt, und wir sahen Blutflecke.«
Fidelma erhob sich mit einer Plötzlichkeit, die sowohl Bruder Madagan als auch Bruder Eadulf überraschte.
»Vielen Dank, Bruder. Wir gehen jetzt zu Bruder Mochtas Zelle und sehen sie uns genauer an«, verkündete sie.
Bruder Madagan stand ebenfalls auf. »Der Abt hat mich gebeten, euch dorthin zu führen«, sagte er. Er hatte den Schlüssel mitgebracht und ging ihnen voran. Unterwegs unterhielt er sie mit unaufhörlichem Geplauder über die Sehenswürdigkeiten der Abtei, die er ihnen zeigte. Fidelma und Eadulf waren sich darüber einig, daß sein Redefluß sie wohl habe ablenken sollen.
Fidelma stand auf der Schwelle von Bruder Mochtas Zelle und betrachtete das Durcheinander darin. Ihren aufmerksamen Blicken entging nichts. Der Raum befand sich in völliger Unordnung. Kleidungsstücke waren auf dem Boden verstreut. Die Strohmatratze war halb von dem kleinen Holzbettgestell heruntergezerrt. Ein Kerzenstummel war in einer Talgpfütze auf dem Boden erloschen, der hölzerne Kerzenhalter stand daneben. Selbst ein paar persönliche Toilettenartikel lagen hier und da herum. Der Tisch neben dem Bett war seltsamerweise nicht umgestoßen. Auf ihm befand sich ein einziger Gegenstand, das hintere Ende eines Pfeils. Die Zeichen auf den Lenkfedern erkannte sie sofort. In einer Ecke lagen Schreibzeug und ein paar Blätter Pergament.
Bruder Madagan schaute ihr über die Schulter. »Dort, Schwester, da auf der Matratze. Das sind die Blutflecke, die der Pater Abt und ich bemerkten.«
»Ich sehe sie«, erwiderte Fidelma kurz. Sie ging nicht hin, sondern wandte sich an Bruder Madagan.
»Sag mal, die Zellen rechts und links von dieser -sind die bewohnt?«
Bruder Madagan nickte. »Ja, aber die Brüder, die darin schlafen, sind jetzt im Wald und sammeln Kräuter. Der eine ist unser Apotheker, der andere sein Gehilfe.«
»Heißt das, daß zu der Zeit, als Bruder Mochta aus diesem Raum verschwand, sich in den Zellen zu beiden Seiten jemand aufhielt?«
»Das stimmt.«
»Und dir oder dem Abt wurde nichts Ungewöhnliches gemeldet?« Ihr Blick streifte durch die verwüstete Zelle.
»Nichts.«
Fidelma schwieg einen Moment und sagte dann: »Wir möchten dich nicht länger von deinen Pflichten abhalten, Bruder Madagan. Wo finden wir dich, wenn wir hier fertig sind?«
Bruder Madagan bemühte sich, seine Enttäuschung über die plötzliche Verabschiedung zu verbergen. »Im Speisesaal. Wir sagen heute vormittag den Pilgern Lebewohl.«
»Sehr gut. Wir kommen bald nach.«
Eadulf schaute Bruder Madagan nach, bis er verschwunden war, und sah dann Fidelma fragend an. Sie blickte schweigend in die Zelle, und Eadulf wußte, daß er sie nicht in ihren Gedanken stören durfte. Nach einer Weile betrat sie den Raum und postierte sich neben der Tür.
»Komm, Eadulf, stell dich auf die Schwelle, wo ich gestanden habe. Was hast du für einen Eindruck?«
Verwundert tat Eadulf, wie sie ihm geheißen. Er ließ den Blick durch den verwüsteten Raum wandern. Das Chaos war nicht zu verkennen.
»So wie die Zelle aussieht, könnte man annehmen, daß Mochta nach heftiger Gegenwehr herausgeschleppt wurde.«
Fidelma neigte zustimmend den Kopf. »So wie die Zelle aussieht«, wiederholte sie leise. »Aber die Bewohner der Nachbarzellen haben nichts bemerkt.«
Eadulf sah sie rasch an und verstand, worauf sie hinauswollte. »Du meinst, man hat das ...« er suchte nach dem richtigen Ausdruck, »absichtlich so arrangiert?«
»Das meine ich. Sieh mal, wie alles im Raum verstreut liegt. Wie die Matratze und die Kleidung vom Bett gerissen wurden. Alles deutet auf eine tätliche Auseinandersetzung, die zwischen dem Vespergebet und der Zeit etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang stattgefunden haben muß. Wenn es wirklich so eine tätliche Auseinandersetzung gab, wie man uns hier glauben machen will, dann hätte der Lärm die Bewohner der Nebenzellen selbst aus dem tiefsten Schlaf reißen müssen. Doch niemand hat eine Störung gemeldet.«