Ihre Antwort verriet, daß beide schon von ihr gehört hatten. Die Kunde von ihrer Ankunft in der Abtei mußte sich schnell verbreitet haben.
»Ich habe gehört, ihr schlaft in den Zellen zu beiden Seiten von Bruder Mochtas Raum.«
Der ältere der beiden Mönche war nur wenig älter als Fidelma, der andere noch keine zwanzig Jahre alt, ein blonder Jüngling mit frischem Gesicht. Er hatte wohl gerade erst das »Alter der Wahl« erreicht. Sie wechselten unsichere Blicke.
»Gibt es eine Nachricht von Bruder Mochta?« fragte der Jüngere. »Die ganze Abtei weiß, daß er samt den heiligen Reliquien verschwunden ist.«
»Es gibt keine Nachricht, Bruder ...?«
»Ich heiße Daig, und dies ist Bruder Bardan, unser Apotheker und Bestatter.« Der junge Mann sagte das mit einem Stolz, als stelle er jemanden vor, der würdiger sei als er selbst. Eifrig fuhr er fort: »Alle in der Abtei haben von deiner Ankunft geredet, Lady.«
»Schwester«, verbesserte ihn Fidelma sanft.
»Womit können wir dir helfen?« unterbrach ihn der ältere Mönch mit geringerem Eifer.
»Ihr wißt, daß Bruder Mochta irgendwann in der Zeit nach dem Vespergebet und vor dem Morgengrauen des Feiertags des heiligen Ailbe aus seiner Zelle verschwunden ist?«
»Das wissen wir«, erklärte Bruder Bardan kurz und schien Fidelma mißtrauisch zu mustern. Er hatte einen dunklen Teint und rabenschwarzes Haar mit einem bläulichen Schimmer. Seine Augen fuhren rasch und unruhig hin und her wie auf der Suche nach verborgenen Feinden. Er war glattrasiert, doch der Bartansatz ließ seine untere Gesichtspartie dunkler erscheinen als seine hellen Wangen.
»Habt ihr in der Nacht in euren Zellen geschlafen? Ich meine die Nacht, in der Mochta verschwand.«
»Ja.«
»Und ihr habt in der Nacht nichts gehört?«
»Ich schlafe fest, Schwester«, antwortete Bruder Bardan. »Ich glaube nicht, daß mich irgend etwas wecken würde. Ich habe nichts gehört.«
»Nun, ich wurde gestört«, erklärte Bruder Daig.
Fidelma wandte sich ihm zu. Diese Antwort hatte sie nicht erwartet. Aus dem Augenwinkel sah sie, daß Bruder Bardans Miene zornig wurde und er seinen Gefährten anblickte. Er öffnete den Mund, und sie glaubte, er werde den Jungen anfahren, doch er schwieg.
»Hast du das gemeldet?« wollte sie wissen.
»Ach, so schlimm war es nicht«, erwiderte der Jüngling.
»Wie war es dann?«
»Ich schlafe leicht und erinnere mich, daß ich nachts wach wurde, weil eine Tür zufiel. Ich glaubte, es sei der Wind gewesen, denn kein Bruder schließt auf diese Art eine Tür. Sie knallte zu.«
»Was geschah dann?« fragte Fidelma.
»Nichts«, gestand Bruder Daig. »Ich drehte mich um und schlief wieder ein.«
Fidelma war enttäuscht. »Du weißt nicht, welche Tür zuknallte?« drang sie in ihn.
»Nein, aber eins weiß ich: Es soll um diese Zeit in Mochtas Zelle einen Kampf gegeben haben. Ich sage, das ist unmöglich.«
»Ja?« ermunterte Fidelma ihn, fortzufahren.
»Wenn es einen solchen Kampf gegeben hätte, dann hätte ich es bestimmt gehört. Ich wäre wach geworden. Außer dem Zuschlagen der Tür hat mich in der Nacht nichts geweckt.«
Bruder Bardan lächelte skeptisch. »Ach, Daig, man weiß doch, daß junge Menschen manchmal große Ereignisse verschlafen. Wie willst du so sicher sein, daß in der Nacht nichts Schlimmes in Mochtas Zelle geschehen ist? Nach dem, was wir gehört haben, beweist der Zustand der Zelle das Gegenteil.«
»Von solch einem Kampf wäre ich wach geworden«, erklärte Daig empört. »Ich wurde aber nur vom Türenknallen geweckt.«
»Na, ich muß zugeben, ich habe nichts gehört«, versicherte Bardan.
Fidelma dankte beiden, ließ sie am Tor der Abtei stehen und ging, von Eadulf gefolgt, über den Platz auf die Stadt zu. Nach einigen Schritten schaute sie rasch über die Schulter zurück. Bruder Bardan stand noch an derselben Stelle und redete lebhaft auf den jüngeren Mönch ein. Anscheinend machte er ihm heftige Vorwürfe.
Eadulf hatte das nicht bemerkt und sagte im Weitergehen: »Na, beweist das nicht deine Theorie? Es gab keine Auseinandersetzung in Mochtas Zelle.«
»Aber hilft uns das weiter?« überlegte Fidelma, als sie an der großen Eibe vorbeigingen.
»Wie meinst du das?« fragte Eadulf.
»Es würde uns weiterhelfen, wenn wir mit Sicherheit wüßten, daß Bruder Mochta derselbe Mann ist, der in Cashel getötet wurde. Doch nach Madagan und den anderen hier beschreiben wir zwar denselben Mann, aber mit einem Unterschied, der nicht zu erklären ist.«
Eadulf breitete die Hände aus. »Ich weiß. Die Tonsur. Ich habe immer wieder versucht, eine vernünftige Erklärung dafür zu finden, aber es gibt keine. Bruder Mochta wurde hier zuletzt vor weniger als achtundvierzig Stunden gesehen mit einer frisch geschorenen Tonsur des heiligen Johannes. Der Mann, den wir für Mochta hielten, wurde vor vierundzwanzig Stunden in Cashel gefunden mit einer Tonsur des heiligen Petrus, aber mit einem Haarwuchs von einigen Wochen auf dem Schädel. Wie paßt das zusammen?«
»Du hast noch etwas übersehen«, ergänzte Fidelma.
»Nämlich?«
»Aona sah den Mann mit der Tonsur des heiligen Petrus vor einer Woche am Brunnen von Ara. Segdae sagte, Mochta habe die Abtei kaum jemals verlassen. Auch das spricht dagegen, daß der Tote in Cashel Mochta ist.«
Eadulf schüttelte verärgert den Kopf.
»Ich finde keine vernünftige Erklärung dafür.«
»Verstehst du jetzt, warum es zwecklos wäre, Abt Segdae unsere Vermutungen mitzuteilen? Ehe wir nicht ein paar Antworten haben, sind es Vermutungen und keine Schlußfolgerungen.«
Das sah Eadulf ein.
Sie hatten den Platz überquert und erreichten die Gruppe von Häusern, Scheunen und anderen Gebäuden, die das Städtchen Imleach bildeten. Es war in den letzten hundert Jahren im Schatten der Abtei und ihres Bischofssitzes entstanden. Vorher war es einfach der Versammlungsplatz um den heiligen Eibenbaum gewesen, zu dem die Eoghanacht-Könige kamen, um ihren Eid abzulegen und ihr Amt anzutreten. Die Abtei hatte Kaufleute, Baumeister und andere angelockt, und nun gab es eine Ansiedlung von mehreren hundert Menschen vor den Mauern der Abtei.
Fidelma blieb stehen und sah sich um.
»Wohin gehen wir jetzt?« fragte Eadulf.
»Wir suchen einen Schmied«, antwortete Fidelma kurz. »Was sonst?«
Kapitel 10
Sie brauchten sich nicht nach der Schmiede zu erkundigen, denn das Keuchen der Blasebälge und das Schlagen von Eisen auf Eisen waren deutlich zu hören, als Fidelma und Eadulf sich der Gruppe von Häusern näherten, die sich entlang der Hauptstraße unweit des Tors der Abtei erstreckten. Die Schmiede war aus Stein erbaut, der Herd stand auf mächtigen Steinplatten. Eine der Platten hatte ein kleines Loch, durch das ein Rohr den Luftstrom aus den Blasebälgen ins Feuer leitete.
Das Keuchen kam von einem imponierenden vier-kammerigen Blasebalg. Eadulf hatte gehört, daß es solche großen Blasebälge gab, hatte aber noch nie einen gesehen. Er wußte, daß sie das Schmiedefeuer gleichmäßiger mit Luft versorgten als die üblichen zweikammerigen. Sie verlangten aber auch härtere Arbeit. Sie sahen, wie ein stämmiger Schmiedegehilfe auf zwei kurzen Brettern stand und wie ein Fußgänger im Wechsel die Füße hob und senkte und auf diese Weise den Blasebalg trat. Je schneller er die Füße bewegte, desto stärker arbeitete der Blasebalg.
Der Schmied stand schwitzend am Feuer, ein kräftiger Mann in den Dreißigern. Er trug Lederhosen und statt des Hemds eine Lederschürze, die ihn vor den Funken schützte. Er hielt ein rotglühendes Stück Eisen in einer tennchair, einer Schmiedezange, auf dem Amboß. Mit der anderen Hand schwang er den Hammer und formte das Eisen mit dröhnenden Schlägen, bis er es in einen telchuma genannten Wassertrog steckte.