»Was willst du von uns«, fragte Fidelma abgewandt, als spräche sie mit Eadulf.
»Darüber kann ich hier nicht reden. Kennt ihr den Brunnen von Gurteen, in dem kleinen bestellten Feld?«
»Nein.«
»Er befindet sich eine knappe Meile nordöstlich von hier. Ihr nehmt den Pfad zum Eibenwald und kommt an ein Feld mit einer Trockenmauer. Der Brunnen ist gleich dahinter. Ihr könnt ihn nicht verfehlen.«
»Wir werden ihn finden.«
»Seid bei Anbruch der Dunkelheit dort, dann können wir reden. Sagt keinem was davon. Es ist gefährlich für uns alle.«
Dann stand der Kutscher wieder auf und ging weiter, als habe er nur etwas an seinem Schuh in Ordnung gebracht.
Eadulf wechselte einen Blick mit Fidelma.
»Eine Falle?« vermutete er.
»Warum sollte uns der Kutscher in eine Falle lok-ken wollen?«
»Er und seine Freunde denken vielleicht, wir wüßten mehr, als wir in Wirklichkeit wissen«, meinte Ea-dulf.
Fidelma dachte eine Weile nach. »Nein, das glaube ich nicht. Seine Furcht, beobachtet zu werden, als er mit uns sprach, war echt.«
»Na, ich halte es für gefährlich, dorthin zu gehen, noch dazu in der Dunkelheit. Es ist eine Falle für einen Fuchs.«
Fidelma schmunzelte. »Der Fuchs hatte nie einen besseren Boten als mich«, antwortete sie.
Eadulf stöhnte, als er diese weitere Redensart von Fidelma zu hören bekam.
»Habt ihr in eurem Land nicht auch den Spruch: Zeige nie die Zähne, bevor du auch beißen kannst?« fragte er spöttisch.
Fidelma kicherte. »Gut gesagt, Eadulf. Du lernst schnell. Aber heute abend sind wir am Brunnen von Gurteen.«
Kapitel 11
Die Dunkelheit brach herein, als Fidelma und Eadulf die Abtei verließen. Sie achteten darauf, daß niemand sie sah, und folgten dann der Beschreibung des Weges zum Brunnen von Gurteen, die Samradans Kutscher ihnen gegeben hatte. Der Tag war warm gewesen, die anbrechende Nacht aber versprach kalt zu werden, und ein schwacher Bodennebel stieg bereits von den Feldern auf. Er bewegte sich nicht, denn es ging kein Wind, nicht einmal eine Abendbrise ließ die Blätter der Bäume und Büsche rascheln.
Sie hatten beschlossen, lieber zu Fuß dorthin zu gehen als zu reiten, denn Fidelma meinte, so würde ihr Ausflug weniger Aufmerksamkeit erregen. Eadulf nahm einen kräftigen Knüttel mit, einen Pilgerstab, den jemand in der Abtei vergessen hatte. Es war gut, etwas bei sich zu haben, womit man sich wehren konnte, wenn man so spät noch ausging. Nachts streiften Wolfsrudel umher und griffen manchmal einsame Wanderer an. In manchen Gegenden waren sie so zahlreich in den Wäldern und Bergen, daß sie, vom Hunger getrieben, ganzen Gemeinschaften gefährlich werden konnten, von den Bewohnern einsamer Höfe ganz zu schweigen.
Als sie den Weg entlanggingen, zerriß ein Heulen nicht weit entfernt die Stille. Eadulf packte seinen Knüttel fester und spähte in die Richtung, aus der der klagende Schrei gekommen war.
»Jetzt verstehe ich, weshalb das irische Wort für Wolfsrudel glademain heißt«, bemerkte er mit besorgtem Blick. Es war von glaid, »Schrei«, abgeleitet, also Wolfsgeheul.
»Sie stoßen seltsame, irgendwie verlockende Laute aus«, gab Fidelma zu. »Manchmal sind Menschen davon so fasziniert, daß sie die Gefahr vergessen. Sie sind die einzigen Tiere in diesem Land, die den Menschen gefährlich werden können. Viele Edelleute halten jährlich Wolfsjagden ab, um ihre Zahl zu verringern.«
Ein Hund bellte zur Antwort auf das Wolfsgeheul.
»Das ist eine andere Gefahr«, bemerkte Fidelma. »Nach Gewohnheit und Gesetz werden die Wachhunde der Bauernhöfe morgens angebunden, aber nach dem abendlichen Hereintreiben der Rinder freigelassen, damit sie die Hofstätten beschützen. Manchmal greifen sie ebenso wütend an wie der >Sohn des Landes<, den du gerade gehört hast.«
Eadulf wollte antworten, als der Wolf wieder seinen unheimlichen Ruf ertönen ließ. Er wartete, bis er verklang.
»Ich habe schon viele Bezeichnungen für den Wolf gehört, aber >Sohn des Landes< - wieso das?« Er erschauerte leicht.
»Mir fallen vier Namen für den Wolf ein, dazu noch ein Sammelname. Wir nennen ihn mac-tire, >Sohn des Landes<, weil er die wilden Wälder und Bergzüge bewohnt.«
Plötzlich blieb sie stehen und bedeutete ihm mit einer Geste, es ihr gleichzutun.
»Da vorn«, sagte sie leise. »Ich glaube, das ist das bestellte Feld, das Samradans Kutscher meinte. Der Brunnen muß in der Nähe sein.«
Zwielicht und Bodennebel hatten das Feld noch nicht ganz in Dunkelheit gehüllt. Der Nebel blieb dicht über dem Boden und wirbelte um ihre Beine, als wateten sie durch flaches weißes Wasser. Eadulfs Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm, und er sah im Dämmerlicht eine rechteckige Einfriedung, die sich deutlich gegen die sie umstehenden Bäume abzeichnete.
»Das muß es sein«, stimmte er ihr zu und wies auf eine Ecke, in der er den fast drei Meter langen Brunnenschwengel erkannt hatte, an dem an einem Seil der Holzeimer hing.
Fidelma ging voran, stieg über die niedrige Steinmauer auf das Feld und schritt über den feuchten, gepflügten Acker auf den Brunnen zu.
»Es scheint noch niemand hier zu sein«, brummte Eadulf und sah sich im Halbdunkel um.
Fast im selben Moment bewegte sich etwas auf der anderen Seite der kleinen Steinmauer, die den Brunnen umgab; sie war ohne Mörtel aus Feldsteinen verschiedener Größe aufgeschichtet worden.
»Wer ist da?« fragte Fidelma.
Als Antwort ertönte ein schwaches Husten und die Stimme von Samradans Kutscher.
Sie gingen um den Brunnenschacht herum und sahen den Mann mit dem Rücken an die Mauer gelehnt sitzen, die Beine lang ausgestreckt, die Arme locker an der Seite. Sein Gesicht war im Dunkeln nicht zu erkennen.
»Ich ... ich hab gehofft, daß ihr bald kommt«, sagte er und hob den Kopf.
Fidelma schaute stirnrunzelnd auf ihn hinunter. »Ist dir nicht gut?« fragte sie, denn sie wunderte sich, daß er nicht aufstand.
»Ich hab nicht viel Zeit«, unterbrach er sie ungeduldig. »Sprecht nicht, hört mir zu.«
Fidelma und Eadulf tauschten erstaunte Blicke.
In der Nähe erklang wieder das klagende Geheul eines Wolfs. Diesmal fielen mehrere andere ein, von überallher schien Wolfsgeheul zu kommen.
»Dann sprich«, forderte ihn Fidelma auf und setzte sich auf die niedrige Mauer. »Was hast du uns zu sagen?«
Eadulf blieb stehen, die Hände am Knüttel, und starrte besorgt in die Dunkelheit. »Ein schöner Ort für ein Treffen«, murmelte er. »Könnten wir nicht von hier weggehen und uns einen geschützteren Platz suchen?«
Der Mann blieb sitzen und beachtete Eadulf nicht. »Schwester Fidelma ... ich bin aus Cashel. Lassen wir’s dabei, mein Name bedeutet dir nichts. Cred hat dir nicht die ganze Wahrheit gesagt.«
»Daran hatte ich keinen Zweifel«, erwiderte Fidel-ma gelassen. »Wir alle biegen die Wahrheit so zurecht, wie wir sie verstehen.«
»Sie log auch mit dem, was sie zugab«, sagte der Kutscher. »Ich habe gesehen, wie sich der Mann, den sie den Bogenschützen nannte, im Gasthaus mit anderen getroffen hat. Sie wußte das und belog euch.«
»Warum sollte sie das tun?«
»Hört mir zu. Der Bogenschütze traf sich mit einem Glaubensbruder. Ich sah, wie der Bruder hereinkam. Cred war auch da. Sie dachte wohl, ich hätte es nicht bemerkt, weil ich nach dem Mittag am Feuer eingenickt war. Ich war jedoch wach geworden, als der Bogenschütze eintrat, und wollte schon aufstehen, als der Mönch kam. Er war so nervös, daß ich tat, als ob ich noch schliefe, und ihn beobachtete.«
»Wer war das? Kanntest du ihn?«
»Nein. Aber ich fand es merkwürdig, daß ein Mönch ein Gasthaus der Art betrat, wie Cred es führt, wenn ihr wißt, was ich meine.«
»Du sahst also einen Mönch eintreten. War er rundlich und hatte er ein Mondgesicht?« fragte Fi-delma.