Sie kniete neben der Leiche nieder und sprach einen kurzen Segen, dann erhob sie sich.
»Sic itur ad astra«, murmelte Eadulf spöttisch. So gelangt man zu den Sternen.
Eadulf vernahm wieder das ständige Heulen der Wölfe, das in der Zeit, die sie am Brunnen verbracht hatten, näher gekommen zu sein schien. Er nahm seinen Knüttel auf und sagte zu Fidelma: »Wir gehen wohl lieber zurück.«
Fidelma stimmte ihm zu. Auch ihr war aufgefallen, daß die Wölfe immer dichter herankamen.
Sie gingen über das Feld, kletterten über die niedrige Steinmauer und erreichten den Weg. Inzwischen war der Mond aufgegangen, ein heller Mond in der Mitte des Septembers. Es war nicht mehr so dunkel. Die wenigen Wolken am Himmel beeinträchtigten den blassen hellen Schein kaum. Dunkelheit und Nebel hatten nur das Feld um den Brunnen herum bedeckt, weil es dort feucht war. Hier auf dem Weg warf das schwache Licht leichte Schatten, während sie auf die fernen Lichter des Ortes zueilten.
Das anschwellende Wolfsgeheul ließ nicht zum erstenmal einen unwillkürlichen Schauer über Eadulfs Rücken laufen.
Unruhig schaute er sich um. »Es hört sich an, als ob sie ziemlich nahe sind«, murmelte er.
»Uns kann nichts passieren«, erwiderte Fidelma zuversichtlich. »Wölfe greifen keine erwachsenen Menschen an, wenn sie nicht am Verhungern sind.«
»Wer weiß, ob diese Biester keinen Hunger haben?« knurrte Eadulf.
In Wahrheit fragte sich Fidelma das auch.
Eadulf war sich nicht sicher, ob er richtig gesehen hatte, so schnell flitzte der Schatten durch sein Blickfeld. Es war ein großer schwarzer Schatten, der zwanzig Meter vor ihnen den Weg kreuzte. Instinktiv blieb Eadulf stehen.
»Was ist?« flüsterte Fidelma. Sie stand neben ihm und spähte nach vorn.
»Ich weiß nicht genau ...«, sagte Eadulf.
Ein leises Knurren ließ ihre Glieder wie im Frost erstarren.
Der Schatten bewegte sich wieder, ein langer, niedriger, muskulöser Schatten, und plötzlich spiegelte sich das Mondlicht in zwei winzigen Punkten, aus denen Feuer zu sprühen schien. Das Knurren wurde lauter.
»Stell dich hinter mich, Fidelma«, zischte Eadulf und hob zum Schutz seinen Knüttel.
Das Tier kam knurrend einen Schritt näher.
»Ich kann nicht erkennen, ob es ein Wolf ist oder ein Wachhund von einem Bauernhof«, flüsterte Fi-delma und spähte in die Dunkelheit.
»Jedenfalls bedroht uns das Biest«, antwortete Ea-dulf.
Ohne Warnung schoß das mächtige Tier plötzlich auf sie zu. Hätte Eadulf nicht so schnell gehandelt, hätte es ihn an der Kehle gepackt. In dem Moment, als es zum Sprung abhob, schwang er seinen Knüttel und traf es mitten im Sprung, mehr mit Glück als gut zielend, genau auf die Schnauze. Er hatte seine ganze Kraft in den Schlag gelegt. Vor Schmerz jaulend, stürzte das Tier zu Boden, zog sich wimmernd ein paar Schritte zurück, doch dann verhielt es, und sein Winseln ging in ein wütendes Fauchen über.
Als Fidelma sprach, hörte Eadulf zum erstenmal, seit er sie kannte, Angst aus ihrer Stimme heraus.
»Das ist kein Hund, Eadulf, das ist ein Wolf.«
Eadulf hatte kein Auge von dem Tier gelassen, das knurrend vor ihnen hin und her lief, als suche es eine schwache Stelle zum Angriff. Es machte kurze Ansätze, kam ihnen aber nicht näher. Die funkelnden roten Augen waren beständig auf Eadulf gerichtet, der ihm mit vorgehaltenem Knüttel immer zugewandt blieb.
»Das kann nicht die ganze Nacht so weitergehen«, murmelte er.
»Wir können nirgendwo hin«, erwiderte Fidelma.
»Ein paar Meter weiter steht ein Baum . wenn ich das Tier in Schach halte, kannst du’s schaffen - hoch auf die Äste klettern .?«
»Und was willst du machen?« wandte sie ein. »Ehe du den Baum erreichst, hat dich das Biest eingeholt.«
»Welchen Ausweg haben wir sonst?« antwortete Eadulf. Die Furcht ließ seine Worte gereizt klingen. »Sollen wir beide uns hier zerreißen lassen? Ich versuche das Vieh abzulenken, damit du vorbeikommst. Dann kannst du rennen. Wenn ich rufe, dann lauf los! Sieh dich nicht um und klettere, so hoch du kannst.«
Sein Ton war so entschlossen, daß Fidelma einsah, jeder Widerspruch war zwecklos. Logisch gesehen hatte Eadulf sowieso recht. Sie hatten keine andere Wahl.
Eadulf machte ein paar Ausfallschritte gegen den knurrenden Wolf, die diesen vor Überraschung über soviel Frechheit zurückprallen ließen. Dann verengten sich seine glühenden Augen, und er bleckte wieder die großen geifernden Zähne. Er hatte sich leicht abgewandt. Eadulf ging wieder vor.
Da ertönte ein Heulen, das Fidelma und Eadulf erschauern ließ. Es kam aus der Richtung des Feldes, das sie gerade verlassen hatten.
Der angriffsbereite Wolf stand still und hob den Kopf ins Mondlicht, dessen weiche Strahlen auf seine emporgereckte Schnauze fielen. Tief aus seiner Kehle drang ein Laut, zuerst schwach, dann zunehmend an Stärke, bis sich die Kiefer öffneten und ein geisterhaft schrilles Geheul die Luft zerriß. So etwas hatte Eadulf noch nie vernommen. Dreimal hintereinander durch-bohrte der Ruf die abendliche Stille um sie her. Als er verklang, schien der Wolf abwartend zu lauschen.
Tatsächlich kam vom Feld her ein antwortender Ruf, ein fürchterlicher, klagender Schrei.
Ohne auch nur einen weiteren Blick auf Eadulf zu werfen, drehte der Wolf ab, sprang über die Steinmauer und verschwand auf dem Feld hinter ihnen.
Eadulf stand noch wie versteinert da. Der Schweiß lief ihm von der Stirn, und der Knüttel in seiner Hand war feucht.
Fidelma bewegte sich als erste.
»Komm weiter, falls noch mehr von diesen Biestern in der Nähe sind. Wir müssen uns in der Ortschaft in Sicherheit bringen.«
Als Eadulf sich nicht rührte, zog sie ihn am Ärmel.
Er faßte sich und eilte ihr mit raschen Schritten nach, wobei er unruhige Blicke zurückwarf.
»Aber sie laufen zu dem Feld, wo wir ...«
»Natürlich!« fauchte Fidelma. »Was denkst du denn, weshalb der Wolf von uns abgelassen hat? Sein Partner ...« ihre Stimme zitterte etwas, »hat die Leiche gefunden, eine leichtere Beute als wir. Das bedeuteten die furchtbaren Schreie, die sie gewechselt haben. Mit seinem Tode hat der arme Mann uns gerettet. Deo gratias!«
Übelkeit stieg in Eadulf auf, als ihm klar wurde, welch grausiges Mahl jetzt am Brunnen gehalten wurde. Aber auch sie hätten als Speise dienen können. Fi-delma hätte ... Er murmelte: »Agnus Dei ... o Lamm Gottes ...« Es war das Gebet zur Begräbnisfeier.
»Spar deinen Atem«, unterbrach ihn Fidelma gereizt. »Ehre das Opfer des Mannes, indem du dich seiner würdig erweist und in Sicherheit gelangst.«
Eadulf verstummte, von Fidelmas Schroffheit verletzt. Schließlich lag ihm ihre Sicherheit mehr am Herzen als seine eigene. Doch er begriff zum erstenmal, seit er sie kannte, daß auch sie nicht frei von Furcht war.
Sie schwiegen, bis sie den Rand der Ortschaft erreicht hatten und die Hauptstraße entlanggingen, rasch an der brennenden Lampe vor der Herberge Creds vorbei. Es waren nur wenige Leute auf der Straße, und niemand schien von ihnen Notiz zu nehmen, bis sie zur Schmiede kamen.
Trotz der späten Stunde saß der Schmied noch an einem glühenden Kohlenkorb neben seinem Amboß. Er polierte eine Schwertklinge. Er blickte auf und erkannte sie.
»Ich würde in der Dunkelheit lieber nicht mehr ausgehen, Lady«, begrüßte er sie.
Fidelma blieb vor ihm stehen. Sie hatte ihre Fassung vollständig wiedergewonnen und sah ihn gelassen an. »Warum nicht?«
Der Schmied hielt lauschend den Kopf schief. »Hast du sie nicht gehört, Lady?«
In der abendlichen Stille drang fernes Wolfsgeheul an ihre Ohren.
»Ja, wir haben sie gehört«, sagte sie gepreßt.
Der Schmied nickte langsam. Er hatte seine Tätigkeit nicht unterbrochen. »Ich habe sie selten so dicht am Ort erlebt«, bemerkte er. »An eurer Stelle würde ich schnell in die Abtei zurückkehren.«