Cashel erhob sich beinahe drohend an die sechzig Meter hoch auf einem Kalksteinfelsen, der die Ebene ringsum beherrschte. Den einzigen Zugang gewährte eine steile Straße von dem Marktflecken herauf, der sich in seinem Schatten angesiedelt hatte. Außer dem Königspalast standen noch viele Gebäude auf dem Felsen. Die große Kirche, der Sitz des Bischofs von Cashel, war nach Art der meisten Kirchen hoch und rund erbaut und durch Gänge mit dem Palast verbunden. Daneben gab es Stallungen, Vorratshäuser, Gästehäuser, Kasernen für die Leibwache des Königs und ein Kloster für die Mönche und Nonnen, die in der Kathedrale Dienst taten.
Schwester Fidelma bewegte sich mit einer jugendlichen Lebhaftigkeit, die nicht zu ihrem Beruf zu passen schien. Ihr Nonnengewand ließ ihre hochgewachsene, wohlgebildete Gestalt erkennen. Mit leichtem Schritt stieg sie zu den Zinnen hinauf und prüfte wieder den Himmel. Ein kleiner Schauer überlief sie, als ein kalter Windstoß über die Gebäude fegte. Offensichtlich hatte es in der Nacht etwas geregnet, denn die Luft war noch feucht, und ein feiner silberner Schimmer lag auf den Feldern, auf denen sich das Licht des frühen Morgens in Tautropfen spiegelte.
Das Wetter war ungewöhnlich. Der Tag des heiligen Matthäus, der die herbstliche Tagundnachtgleiche mit erstem Frühfrost und sinkenden Nachttemperaturen verkündigte, war noch nicht gekommen. Die Tage in diesem Monat waren schön, aber kühl. Den Himmel bedeckte eine einförmige graue Wolkenschicht, nur wenige hellere Stellen zeigten, wo die Sonne sie zu durchdringen versuchte. Die Wolken ballten sich über den Bergen im Südwesten, jenseits des Tales, in dem sich das breite Band des Flusses Suir von Nord nach Süd schlängelte.
Als Fidelma sich von der Betrachtung des Himmels löste, erblickte sie ein kleines Stück entfernt einen älteren Mann. Anscheinend beobachtete auch er den Morgenhimmel. Sie ging zu ihm und begrüßte ihn lächelnd.
»Bruder Conchobar! Du schaust heute morgen so traurig drein«, sagte sie fröhlich, denn Fidelma ließ ihre Stimmung nicht vom Wetter beeinflussen.
Der alte Mönch hob sein langes Gesicht und setzte eine trübe Miene auf.
»Dazu habe ich auch allen Grund. Heute ist kein glückverheißender Tag.«
»Ein kalter Tag, das gebe ich zu, Bruder«, antwortete sie. »Doch die Wolken können sich verziehen, denn der Wind kommt aus Südwesten, wenn er auch kühl ist.«
Der Alte schüttelte den Kopf und ging nicht auf ihren Frohsinn ein.
»Es sind nicht die Wolken, die mir sagen, wir sollten uns an diesem Tag in acht nehmen.«
»Hast du wieder deine Himmelskarten studiert, Conchobar?« schalt ihn Fidelma, denn sie wußte, daß Bruder Conchobar nicht nur der Arzt von Cashel war, dessen Apotheke im Schatten der königlichen Kapelle stand, sondern daß er auch Schlüsse aus den Konstellationen der Sterne zu ziehen vermochte und viele einsame Stunden in der Betrachtung des Himmelsgewölbes verbrachte. Oft verbanden Ärzte die Medizin und die Astrologie in der Ausübung ihrer Kunst.
»Studiere ich die Karten nicht jeden Tag?« erwiderte der Alte mit düsterer, monotoner Stimme.
»Wie ich seit meiner Kindheit weiß«, bestätigte Fi-delma feierlich.
»Allerdings. Früher habe ich versucht, dir die Himmelskarten zu erklären«, seufzte der Alte. »Du wärst eine ausgezeichnete Deuterin der Vorzeichen geworden.«
Fidelma verzog freundlich das Gesicht. »Das bezweifle ich, Conchobar.«
»Verlaß dich drauf. Habe ich nicht bei Mo Chuaroc mac Neth Semon studiert, dem größten Astrologen, den Cashel hervorgebracht hat?«
»Das hast du mir oft erzählt, Conchobar. Aber nun sag mir, warum dieser Tag kein Glück verheißt?«
»Ich fürchte, heute geht das Böse um, Fidelma von Cashel.«
Der alte Mann redete sie nie mit ihrem religiösen Titel an, sondern betonte stets, daß sie die Tochter eines Königs und die Schwester eines Königs war.
»Kannst du das Böse genau erkennen, Conchobar?« fragte Fidelma mit plötzlich erwachtem Interesse. Sie hatte kein großes Vertrauen zu Astrologen, denn ihre Wissenschaft schien allein von den Fähigkeiten des einzelnen Kenners abzuhängen, sie gestand sich aber ein, daß man von den klügsten unter ihnen etwas lernen konnte. Das Studium des Himmels, nemgnacht, war eine alte Kunst, und wer es sich leisten konnte, ließ sich bei der Geburt eines Kindes ein nemindithib, ein Horoskop, stellen.
»Das kann ich leider nicht genau sagen. Weißt du, wo heute der Mond steht?«
In einer so naturverbundenen Gesellschaft mußte man schon völlig unwissend oder ein Trottel sein, wenn man die Stellung des Mondes nicht kannte.
»Wir haben abnehmenden Mond, Conchobar. Er steht im Haus des Steinbocks.«
»Ja, und der Mond steht in Opposition zum Merkur, in Konjunktion zum Saturn und im Sextilschein zum Jupiter. Und wo steht die Sonne?«
»Das ist leicht, sie steht im Haus der Jungfrau.«
»Und in Opposition zum nördlichen Knoten des Mondes. Die Sonne steht in Opposition zum Mars. Saturn steht in Konjunktion zum Mond im Haus des Steinbocks, doch er steht in Opposition zum Merkur. Jupiter steht in Konjunktion zum Mittelpunkt des Himmels, aber in Opposition zur Venus.«
»Und was bedeutet das alles?« drängte ihn Fidelma und versuchte ihm mit ihren mageren Kenntnissen in dieser Kunst zu folgen.
»Es bedeutet, daß dieser Tag nichts Gutes bringt.«
»Für wen?«
»Hat dein Bruder Colgü die Burg schon verlassen?«
»Mein Bruder?« Fidelma runzelte überrascht die Stirn. »Er brach schon vor der Morgendämmerung auf, um sich, wie verabredet, beim Brunnen von Ara mit dem Fürsten der Ui Fidgente zu treffen und ihn hierher zu geleiten. Siehst du eine Gefahr für meinen Bruder?« Plötzlich überkam sie Furcht.
»Das kann ich nicht sagen.« Der Alte breitete verlegen die Arme aus. »Ich bin mir nicht sicher. Die Gefahr könnte sich auf deinen Bruder beziehen, doch wenn es so ist und ihm ein Leid zugefügt wird, dann wird der, der es verursacht, am Ende nicht triumphieren. Das ist alles, was ich weiß.«
Fidelma sah ihn mißbilligend an.
»Du sagst zu viel oder zu wenig, Bruder. Es ist unrecht, Leute zu verunsichern, ohne ihnen genug mitzuteilen, damit sie das Unheil abwehren können.«
»Ach, Fidelma, sagt nicht das Sprichwort, daß ein schweigender Mund am lieblichsten klingt? Es wäre leichter für mich, nichts zu sagen und die Sterne ihren Lauf nehmen zu lassen, als zu versuchen, ihnen ihre Geheimnisse zu entreißen.«
»Du hast mich verstimmt, Bruder Conchobar. Jetzt werde ich mir Sorgen machen, bis mein Bruder heil zurück ist.«
»Es tut mir leid, daß ich dich beunruhigt habe, Fi-delma von Cashel. Ich bete, daß sich alles als ein Irrtum herausstellt.«
»Die Zeit wird es uns sagen, Bruder.«
»Die Zeit enthüllt alles«, stimmte ihr Conchobar ruhig zu und zitierte damit ein altes Sprichwort.
Er neigte zum Abschied den Kopf und ging vorsichtig von den Zinnen hinunter, mit gebeugtem Rük-ken und auf einen kräftigen Weißdornstock gestützt. Fidelma blickte ihm nach, sie vermochte ihre Unruhe nicht abzuschütteln. Sie kannte Bruder Conchobar, seit sie vor dreißig Jahren auf die Welt gekommen war. Er hatte schon bei ihrer Geburt geholfen. Er schien seit ewigen Zeiten in der alten Burg von Cashel zu wohnen. Er hatte ihrem Vater, König Failbe Fland mac Aedo, gedient, an den sich Fidelma nicht erinnerte, denn er war noch in dem Jahr ihrer Geburt gestorben. Er hatte auch ihren drei Vettern gedient, die ihm in der Königswürde gefolgt waren. Nun diente er ihrem Bruder Colgu, der vor kaum einem Jahr zum König von Muman ausgerufen worden war. Bruder Con-chobar galt als einer der gelehrtesten unter den Männern, die den Himmel beobachteten und Karten der Sterne und ihrer Bahnen zeichneten.