Fidelma kannte Conchobar gut genug, um zu wissen, daß man seine Voraussagen nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte.
Sie blickte zum trüben Himmel auf, erschauerte und stieg von den Zinnen hinab. Auf dem großen Palastgelände auf dem Kalksteinfelsen gab es viele kleine Höfe und noch kleinere Gärten. Der ganze Gebäudekomplex war von hohen Verteidigungsmauern umgeben.
Fidelma schritt über die gepflasterten Höfe zum großen Eingang der königlichen Kapelle. Der Lärm spielender Kinder ließ sie aufblicken. Sie lächelte, als sie sah, daß einige Knaben die Wand der Kapelle für ein Spiel benutzten, das roth-chless oder »Radwerfen« genannt wurde. In ihrer Kindheit war es ein Lieblingsspiel ihres Bruders gewesen, denn es war das einzige Spiel, bei dem Colgu sie mit Sicherheit besiegen konnte. Es kam dabei auf die Stärke des Arms an, denn es galt, eine schwere runde Scheibe an einer hohen Wand hochzuschleudern. Wer am höchsten kam, war Sieger. Der Legende nach warf der große Krieger Cuchullain eine Scheibe so hoch, daß sie über die Mauer und das Dach des Gebäudes hinwegflog.
Das Freudengeschrei der Kinder zeigte an, daß einem von ihnen ein besonders guter Wurf gelungen war. Ein ergrauter Stallknecht, der gerade vorbeikam, blieb stehen und wies sie zurecht.
»Ein schweigender Mund klingt am lieblichsten«, ermahnte er sie mit erhobenem Finger und demselben Sprichwort, das Bruder Conchobar vorhin zitiert hatte. Als er weiterging, sah er Fidelma und grüßte sie. Fidelma bemerkte, daß ein paar Jungen ihm hinter seinem Rücken Gesichter schnitten, tat aber so, als sähe sie es nicht.
»Ach, Lady Fidelma, diese jungen Burschen«, seufzte der alte Diener und gebrauchte die Anrede ihres königlichen Standes, wie alle in Cashel. »Wahrhaftig, Lady, ihr Lärm zerreißt die Stille der Stunde.«
»Es sind doch nur Kinder beim Spiel, Osloir«, erwiderte sie. Fidelma legte Wert darauf, alle Bediensteten im Palast ihres Bruders mit Namen zu kennen. »Ein griechischer Philosoph hat einmal gesagt: >Spielt, damit ihr ernst werdet.< Also laß sie spielen, solange sie jung sind. Sie haben noch viele Jahre vor sich, in denen sie ernst sein müssen.«
»Aber Stille ist doch der Idealzustand?« protestierte der Diener.
»Das kommt darauf an. Zuviel Stille kann auch schmerzen. Man kann von allem zuviel bekommen, selbst vom Honig.«
Sie lächelte den Kindern zu, wandte sich zum Eingang der königlichen Kapelle und wollte gerade die Stufen hinaufgehen, als eine der Türen sich öffnete und ein junger Mönch in einer braunen wollenen Kutte heraustrat. Es war ein stämmiger junger Mann, in dessen üppiges braunes Haar die corona spina eingeschnitten war, die runde Tonsur der römischen Kirche. Seine dunkelbraunen Augen funkelten humorvoll in seinem angenehmen und beinahe hübschen Gesicht.
»Eadulf!« begrüßte ihn Fidelma. »Dich suche ich gerade.«
Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham, der aus dem Königreich des Südvolks stammte, war als Gesandter keines geringeren als Theodors, des Erzbischofs von Canterbury, an den Hof des Königs von Cashel gekommen. Er begrüßte sie mit fröhlicher Miene.
»Ich hatte dich heute morgen beim Gottesdienst erwartet, Fidelma.«
Fidelma schmunzelte verschmitzt. »Höre ich da eine Kritik heraus?«
»Sicher gehört es doch zu den wichtigsten Pflichten einer Nonne, den Gottesdienst am Sabbatmorgen zu besuchen.« Die irische Kirche hielt am Sonnabend als dem Sabbattag fest.
»Ich war allerdings beim Morgengebet heute in aller Frühe«, erwiderte Fidelma spitz. »Das war vor Sonnenaufgang, als du, wie ich hörte, noch geschlafen hast.«
Eadulf errötete leicht.
Sofort empfand Fidelma Reue und berührte ihn leicht am Ärmel.
»Ich hätte dir vorher sagen sollen, daß es in unserem Hause üblich ist, am Feiertag des heiligen Ailbe ganz früh zum Dankgebet für sein Leben zu gehen. Außerdem mußte mein Bruder schon vor Tagesanbruch Cashel verlassen und zum Brunnen von Ara reiten. Wir sind früh aufgestanden.«
Eadulf war noch nicht besänftigt, ging aber mit Fi-delma zurück über den Hof zum Eingang der großen Festhalle von Cashel.
»Was ist so Besonderes an diesem Feiertag?« fragte er etwas gereizt. »Alle preisen den heiligen Ailbe, doch ich gestehe offen, daß ich weder von seinem Leben noch von seinem Werk etwas gehört habe.«
»Ein Fremder muß auch nicht unbedingt etwas von ihm wissen«, bemerkte Fidelma. »Er ist unser Schutzheiliger, der himmlische Beschützer des Königreichs Muman. Dies ist der Tag, an dem das Gesetz Ailbes unserem Volk verkündet wurde.«
»Ich verstehe«, meinte Eadulf, »weshalb dieser Tag ein besonderer ist. Aber nun sag mir, warum er als Schutzheiliger Mumans gilt und was es mit dem Gesetz Ailbes auf sich hat.«
Gemeinsam schritten sie durch den Empfangsraum des Palastes und durch die große Festhalle, die zu dieser Tageszeit fast verlassen dalag. Nur wenige Bedienstete waren unauffällig dabei, Feuer in den Kaminen zu machen, die Zimmer zu säubern und die Steinfußböden mit Reisigbündeln zu fegen.
»Ailbe stammte aus Muman, er wurde im Nordwesten des Landes geboren, am Hofe Cronans, eines Fürsten des Volkes der Cliach.«
»War er ein Sohn des Fürsten?«
»Nein. Er war der Sohn einer Dienerin des Fürsten, die bei der Geburt starb. Wer der Vater war, ist umstritten. Der Fürst war so erzürnt darüber, daß seine Geburt ihn einer bevorzugten Dienerin beraubte, daß er das Kind ersticken lassen wollte. Der Sage nach wurde es in der Wildnis ausgesetzt, aber von einer alten Wölfin aufgezogen.«
»Ach, solche Geschichten habe ich schon öfter gehört«, bemerkte Eadulf spöttisch.
»Da hast du allerdings recht. Wir wissen nur, daß Ailbe, als er erwachsen war, ins Ausland ging und in Rom zum neuen Glauben bekehrt und getauft wurde. Der Bischof von Rom schenkte ihm ein wunderschönes silbernes Kruzifix als Zeichen seines Amtes und sandte ihn nach Irland zurück, damit er Bischof der dortigen Christen würde. Das war noch bevor der heilige Patrick seinen Fuß in unser Land setzte. Mein Ahnherr, der erste christliche König von Mu-man, Oenghus mac Nad Froich, wurde von Ailbe zum Glauben bekehrt. Ailbe und Patrick nahmen beide an der Taufzeremonie des Königs hier auf diesem Felsen von Cashel teil. König Oenghus ordnete danach an, daß Cashel hinfort der Sitz des Primas von Muman sei und zugleich die königliche Hauptstadt, und Ailbe solle der erste Oberhirte des Königreichs werden.«
Sie setzten sich an ein Fenster der Großen Halle, das auf den westlichen Teil der Stadt unter ihnen hinausging, und blickten über die Ebene zu den entfern-ten Bergen im Südwesten. Eadulf reckte sich und unterdrückte rasch ein Gähnen. Fidelma sollte sich nicht gekränkt fühlen. Sie hatte es nicht bemerkt, denn ihr Blick ruhte auf den schimmernden Wäldern des fernen Tals. Mit ihren Gedanken war sie noch bei dem alten Bruder Conchobar und seiner düsteren Vorhersage. Sie fragte sich, ob sie sich auf ihren Bruder Colgü bezog. Es war kein Geheimnis, daß er sich zum Brunnen von Ara, einer Furt durch den Fluß Ara, begeben hatte, um sich mit den Erzfeinden der Könige von Cashel zu treffen. Solange sie denken konnte, waren die Fürsten der Ui Fidgente ihrer Familie feind gewesen. Gewiß, Colgü hatte seine Leibwache mitgenommen, konnte ihm dennoch Gefahr drohen? Beinahe hätte sie Eadulfs Frage überhört.
»Wie kommt es dann, daß er Ailbe von Imleach genannt wird und nicht Ailbe von Cashel? Und was besagt dieses Gesetz Ailbes?«
Eadulf wollte immer möglichst viel über das Königreich Muman erfahren.