»Nein. Ich drücke mich sehr genau aus, wie ich es auch vom Gericht erwarte. Ich habe gesagt, ich kann die Eoghanacht nicht von der Verantwortung freisprechen. Ich habe nicht gesagt, daß Colgü verantwortlich ist. Weiser Richter«, fuhr Fidelma fort, »laß mich die Aufklärung dieser Angelegenheit in meiner eigenen Weise vortragen.«
Die Brehons Dathal und Fachtna neigten sich zu Rumann, und die drei Richter hielten eine Beratung im Flüsterton ab. Dann verkündete Rumann: »Dein Ersuchen ist ungewöhnlich, doch da der Fall den Frieden dieses Königreichs berührt, gewähren wir dir eine gewisse Freiheit in deiner Darlegung.«
Fidelma seufzte erleichtert. »Dies war auch kein gewöhnlicher Fall. Ich wurde einige Zeit durch andere Dinge abgelenkt, von denen ich annahm, daß sie mit der Lösung zu tun hätten, die jedoch nur eine Reihe unzusammenhängender Vorfälle darstellten, die den Weg eines der schrecklichsten Komplotte kreuzten, die die Vernichtung des Königreichs von Muman zum Ziel hatten.«
Erneut entstand Lärm unter den Zuhörern, und Rumann klopfte mehrmals mit seinem Hammer.
Solam war wieder aufgesprungen. »Behauptet sie jetzt, wir hätten vorgehabt, Colgü zu stürzen?« fauchte er. »Ich weiß nicht mehr, was sie will, denn in einem Augenblick behauptet sie dieses und im nächsten Moment das Gegenteil!«
Fidelma hob beide Hände. »Weise Richter, es gibt keinen kürzeren Weg zur Wahrheit, als wenn ihr mir die Zeit laßt, sie auf meine Art zu erklären.«
»Diese Freiheit hast du bekommen«, bestätigte Rumann. »Ich gestatte keine weiteren Unterbrechungen, bis die Anwältin für Cashel fertig ist.«
Widerwillig setzte sich Solam hin.
»Nun gut«, sagte Fidelma. »Ich brauche nicht zu erläutern, daß es Spannungen zwischen Muman und dem nördlichen Königreich von Ulaidh gibt. Die Ui Neill und die Eoghanacht liegen im Streit, seit dieses Land zuerst unter ihnen aufgeteilt wurde, seit jener grauen Vorzeit, als Eremon im Norden herrschte und Eber Fionn im Süden. Die Nachfahren Eremons, die Ui Neill, glauben wie einst Eremon selbst, sie sollten über ganz Eireann herrschen. Das war und ist der Grund der Spannungen in diesem Land. Auch jetzt noch, da wir unsere heidnische Vergangenheit hinter uns gelassen haben, sind die Bereiche der Häupter des Glaubens nach diesen politischen Grenzen geteilt. Der Comarb von Patrick in Armagh unterstützt seinen König, den Ui Neill, während hier in Muman der Comarb von Ailbe zu den Eoghanacht hält.«
»Geschichte!« höhnte Solam halblaut. »Müssen wir unsere Zeit mit alten Geschichten vergeuden? Wozu brauchen wir solche dunklen Überlieferungen?«
Zornig fuhr Fidelma zu ihm herum. »Ohne die Geschichte müßten wir kleine Kinder bleiben und würden nicht wissen, wer wir sind und woher wir kommen. Wenn wir die Vergangenheit nicht kennen, können wir die Gegenwart nicht verstehen, und wenn wir die Gegenwart nicht verstehen, können wir keine bessere Zukunft schaffen.« Sie wandte sich wieder an die Richter. »Weise Richter, bedenkt jene historischen Spannungen, denn sie sind wichtig.«
Sie hielt einen Moment inne. Jetzt herrschte Stille. Jeder kannte die Reibereien und Eifersüchteleien, an die sie erinnert hatte. Nicht zuletzt auch die Ui Fid-gente, die mehrmals bei ihrem Vorgehen gegen Cashel von ehrgeizigen Monarchen der Ui Neill unterstützt worden waren.
»Ich komme nun zu den Einzelheiten. Zunächst möchte ich sagen, daß es einen jungen Fürsten im Königreich Muman gibt, der von brennendem Ehrgeiz erfüllt ist. Er strebt nach der Macht, und um der Macht willen schert er sich nicht um Recht und Moral.«
»Nenne seinen Namen!« kamen sofort die Rufe von mehreren Seiten.
»Seinen Namen werde ich nennen«, erwiderte Fi-delma ruhig, »doch zu gegebener Zeit. In seiner Gier nach der Macht war dieser junge Mann entschlossen, Muman zu stürzen, damit er in die Machtlücke treten könnte. Nun ist Muman ein großes und starkes Königreich. Aber wo liegt Mumans Schwäche?«
Sie wandte sich Donennach zu, dem Fürsten der Ui Fidgente. Er wurde rot und schaute sie böse an.
»Es ist bekannt, daß die Ui Fidgente seit langem behaupten, eigentlich sollten sie in Cashel herrschen«, sagte sie.
»Das leugne ich nicht«, antwortete Donennach trotzig »Das ist Geschichte. Wie du es so schön ausgedrückt hast - es ist Geschichte.«
»Genau«, lächelte Fidelma. »Die Jahrhunderte hindurch haben die Eoghanacht viele Schlachten mit den Ui Fidgente ausgefochten. Dabei ging es immer um Cashel. Nun hat dieser junge Mann, wie ich schon sagte, ein Fürst dieses Landes, ein hinterhältiges Komplott geschmiedet, um Zwistigkeiten in Muman zu erregen. Er wollte ein Attentat in die Wege leiten, die Ermordung des Königs von Cashel. Der Attentatsversuch auf den Fürsten der Ui Fidgente war nur eine Verschleierung des wahren Zwecks .«
Sie schwieg, weil der Lärm ohrenbetäubend wurde. Solam und Donennach waren schreiend aufgesprungen, und die Krieger der Ui Fidgente mit Gionga an der Spitze stampften mit den Füßen, um ihren Unwillen zu bekunden. Die Großen Hallen durfte bei Festen oder Gerichtsverhandlungen niemand betreten, der nicht seine Waffen am Eingang abgelegt hatte. Wenn Gionga und seine Männer ihre Waffen zur Hand gehabt hätten, das wußte Eadulf, dann hätte es jetzt ernste Auseinandersetzungen gegeben.
Brehon Rumann bemühte sich um Ruhe. Schließlich gelang es ihm, die Versammlung zur Ordnung zu rufen. Er wollte etwas sagen, doch Fidelma setzte ihre Ausführungen fort.
»Als dieser Fürst erfuhr, daß die Ui Fidgente an einem bestimmten Tag nach Cashel kommen würden, sandte er einen vertrauten Boten zu den Ui Neill von Ailech, ließ ihnen seinen Plan eröffnen und bat ihren ebenso ehrgeizigen König um Hilfe. Ihm wurde Unterstützung zugesagt. Es gab in Armagh zufällig einen Bruder Baoill, der ebenfalls davon überzeugt war, daß die Ui Neill und Armagh über die fünf Königreiche herrschen sollten. Durch einen seltsamen Zufall war er der Zwillingsbruder von Bruder Mochta, dem Bewahrer der heiligen Reliquien Ailbes.
Nun wurde der Plan kompliziert. Das Ziel war, nicht nur den König von Muman zu ermorden, sondern Muman in völliges Chaos zu stürzen, indem man die heiligen Reliquien Ailbes stahl und versteckte. Ich brauche kaum zu erwähnen, daß diese Reliquien nicht nur von unschätzbarem Wert, sondern auch das politische Symbol des ganzen Königreichs von Muman sind. Ailbe war unser geistiger Lenker. Das Verschwinden seiner Reliquien würde uns in größte Verwirrung und Verzweiflung stürzen. Man stelle sich dieses Zusammentreffen vor! Der Tod des Königs und der Verlust der Reliquien.
Doch damit waren die Verschwörer noch nicht zufrieden. Für den Fall eines Fehlschlags schickte der Ui Neill von Ailech eine Schar seiner Leute in dieses Land. Es war nicht der erste Überfall dieser Art. Dieser Söldnertrupp war es, der Imleach angriff und den heiligen Eibenbaum fällte.«
Brehon Dathal beugte sich vor. »Doch in seinen Stumpf wurde von den Angreifern ein aufgerichteter Eber eingeritzt, das Zeichen der Ui Fidgente.«
»Damit man den Ui Fidgente die Schuld geben könnte. Ich faßte diesen Verdacht, als ich sah, daß der Angreifer, den wir gefangennahmen und der dann unglücklicherweise getötet wurde, ein Schwert trug, wie ich es auf meinen Reisen im Norden gesehen hatte. Es war ein claideb det, ein mit Tierzähnen verziertes Schwert. Erst nach einer Weile fiel mir ein, daß solche Schwerter nur vom Clan Brasil hergestellt werden. Ein Schwert derselben Art trug Baoill bei dem Attentatsversuch. Armagh liegt im Gebiet des Clans Brasil.«
Erstaunt hatte sich Solam zu ihr umgewandt, als er begriff, worauf sie hinauswollte. »Du willst damit also sagen, daß die Ui Fidgente an all dem unschuldig waren? Daß du nicht Donennach beschuldigst und behauptest, er wäre der Urheber der Verschwörung?«
Sie lächelte kurz. »Ich fürchte, das Verhalten der Ui Fidgente war nicht dazu angetan, ihre Unschuld zu beweisen, von dem Moment an, als Gionga die Brücke über den Suir von seinen Kriegern sperren ließ. Doch das war nicht die einzige Handlung, die mich auf die falsche Spur brachte. Das taten eine Zeitlang noch andere Ereignisse, die kaum in einem Zusammenhang standen.«