»Können Sie die Piloten bitten, nachher ins Hotel zu kommen?«, bat Neilsen den Inuit.
»Aber gern«, versprach Isnik und legte die Füße wieder zurück auf die Schreibtischplatte.
Neilsen geleitete Hughes durch die Tür aus der Halle hinaus. »Dies ist eine alte Basis der U.S. Air Force«, erklärte er. »Das Hotel war die Unterkunft der Basis. Eigentlich ganz nett. Es besitzt das einzige Hallenbad in Grönland und sogar eine Bowlinghalle mit sechs Bahnen. Für dieses Land gilt das schon als Vier-Sterne-Standard.«
Die Männer gingen das kurze Stück über den Parkplatz zum Hotel, und Hughes bekam seinen Zimmerschlüssel ausgehändigt. Zwei Stunden später, nach einer Mahlzeit aus Moschusochsensteak und Pommes frites, ging er zu Bett. Es war erst früher Nachmittag, doch hatte er am nächsten Tag eine Menge Arbeit vor sich und wollte dazu gründlich ausgeruht sein.
9
Juan Cabrillo brachte die Zollkontrolle in der kleinen Abfertigungshalle in Kulusuk zügig hinter sich, dann betrachtete er die Landkarte neben der Tür, die nach draußen führte. In den wenigen Monaten des kurzen Sommers war Kulusuk von Wasser umgeben. Sobald der Herbst anbrach und die Temperaturen sanken, gefror das Meerwasser zu dicken Eisschollen. Und obgleich das Eis niemals dick genug wurde, um zum Beispiel eine Lokomotive zu tragen, hatten Autos, Lastwagen oder Schneemobile keine Probleme, das Festland zu erreichen.
Im Winter war Kulusuk keine Insel mehr. Dank des Eises wurde es zu einem festen Bestandteil Grönlands.
Von dort, wo Cabrillo stand, waren es noch gut hundertzehn Kilometer nach Norden bis zu dem Breitengrad, der den eigentlichen Polarkreis markierte, und von dort aus waren es dann noch einmal rund zwanzig Kilometer bis zum Mount Forel. Seit der Wintersonnenwende, dem 22. Dezember, waren erst ein paar Tage verstrichen. Genau auf dem Polarkreis war dieser Tag der einzige Tag mit vollkommener Dunkelheit im Jahr.
Nördlich des Polarkreises herrschte, je nachdem wie weit man sich nach Norden bewegte, ohnehin ständige Dunkelheit. Je weiter man nach Norden vordrang, desto länger dauerte dieser Zustand an. Genau auf dem Polarkreis und südlich davon stellte der 22. Dezember einen Wendepunkt dar. Während der Winter andauerte und der Frühling näher rückte, verlängerte sich die Tageslichtperiode jeden Tag um einige weitere Minuten. Sobald der Sommer angebrochen war, ging die Mitternachtssonne auf und würde in der Region nördlich des Polarkreises für einige Zeit nicht mehr untergehen.
Es war ein Kreislauf, der sich seit unzähligen Jahrtausenden ständig wiederholte.
Draußen peitschte ein heulender Wind harte Schrotkugeln aus gefrorenem Schnee gegen die Fenster der Abfertigungshalle. Das Wetter wirkte so einladend wie das Innere eines Gefrierschranks. Cabrillo blickte hinaus und verspürte ein Frösteln. Obgleich er sich noch immer in der Halle aufhielt, zog er den Reißverschluss seines Parkas ein Stück weiter zu.
Da sich Kulusuk ganz knapp außerhalb des Polarkreises befand, würde an diesem Tag einige Minuten lang Tageslicht herrschen. Im Gegensatz dazu fristete der Mount Forel sein Dasein in totaler Dunkelheit. Während der nächsten Tage und Wochen könnte man miterleben, wie die Bergspitze die ersten Lichtstrahlen des Tages einfing. Dann, während die Monate ins Land gingen, begann der Sonnenschein an den Bergflanken hinunterzusickern wie gelbe Farbe, die über eine Pyramide gegossen worden war.
Wenn man jedoch hinausschaute, würde man niemals vermuten, dass die Sonne irgendwo in der Nähe geschienen hatte.
Im Augenblick hingegen machte sich Cabrillo weniger Sorgen wegen der Dunkelheit als vielmehr wegen eines Transportmittels zur Weiterreise. Während er durch die Halle zum Ausgang schlenderte, holte er ein Satellitentelefon hervor und gab eine Kurzwahlnummer ein.
»Was hast du erreicht?«, fragte er, als sich Max Hanley meldete.
Weil Langston Overholt das Ganze so dringlich gemacht hatte, war Cabrillo ohne einen genauen Plan, wie er zum Mount Forel gelangen sollte, von der Oregonaufgebrochen. Hanley hatte ihm versichert, ein Plan läge bereit, sobald er landete.
»Man kann sich einen Hundeschlitten mieten«, antwortete Hanley, »aber dann bräuchtest du jemanden als Hundeführer — und ich dachte mir, dass du lieber auf einen Zeugen verzichten würdest, deshalb habe ich das verworfen. Die Hubschrauber, die Kulusuk versorgen, haben feste Zeiten und Routen, von Tasiilaq und zurück, aber die kann man nicht mieten. Und wegen der augenblicklichen Wetterlage können sie sowieso nicht starten.«
»Zum Wandern eignet sich das Wetter auch nicht«, erklärte Cabrillo, während er hinausblickte.
»Oder zum Skilaufen«, fügte Hanley hinzu, »obwohl ich weiß, dass du dir auf deine Skikünste eine Menge einbildest.«
»Also, was ist es?«
»Ich habe den Computer sämtliche Fahrzeuganmeldungen aus der Gegend überprüfen lassen — lange hat es nicht gedauert, weil in Kulusuk nur an die vierhundert Leute wohnen. Schneemobile habe ich von Anfang an gestrichen, weil du damit dem Schnee und der Kälte ausgesetzt wärest, und auch, weil sie gerne streiken. Bleiben also nur noch Schneekatzen übrig. Sie sind zwar langsam und verbrauchen eine Menge Sprit, sind aber geheizt und haben genügend Platz, um Vorräte und Ausrüstung einzuladen. Ich denke, sie wären die beste Lösung.«
»Klingt vernünftig«, sagte Cabrillo. »Und wo finde ich die Vermietung?«
»So etwas gibt es nicht«, dämpfte Hanley seine Hoffnung, »aber ich habe die Namen und Adressen von Privateigentümern aus dem Einwohnerverzeichnis von Grönland rausgesucht und ein paar Telefonate geführt. Niemand von denen, die ein solches Vehikel besitzen, hat eine private Telefonnummer, aber ich konnte den Pastor der örtlichen Kirche erreichen. Und er meinte, es gebe da einen Mann, der vielleicht bereit sei, sein Fahrzeug zu vermieten — die anderen sind alle in Gebrauch.«
»Und die Adresse?« Cabrillo holte einen Bleistift und einen kleinen Notizblock aus seinem Parka.
»Das sechste Haus nach der Kirche. Es hat rote, mit gelben Streifen abgesetzte Wände.«
»Gibt es so hoch im Norden keine Straßennamen mehr?«
»Ich denke, hier kennt jeder jeden«, sagte Hanley.
»Das klingt, als seien die Eingeborenen ganz fremdenfreundlich.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte Hanley. »Der Pastor sagte, dass der Eigentümer während des Winters ziemlich viel trinkt. Er erzählte auch, fast jeder in der Stadt habe eine Waffe bei sich, um Bären abzuwehren.«
Cabrillo nickte. »Demnach brauche ich lediglich einen bewaffneten und besoffenen Einheimischen zu überreden, mir seine Schneekatze zu leihen, und schon bin ich unterwegs«, sagte Cabrillo und klopfte prüfend auf das Paket Hundert-Dollar-Scheine in seiner Parkatasche. »Das klingt einfach.«
»Ach ja, da ist noch etwas — er ist kein Eingeborener. Er ist in Arvada, Colorado, aufgewachsen und wurde während des Vietnamkriegs zum Wehrdienst eingezogen. Nach dem, was ich mir aus allen möglichen Datenbanken habe zusammensuchen können, verbrachte er nach seiner Rückkehr aus dem Krieg mit kurzen Unterbrechungen einige Jahre in Veteranenheimen. Dann verließ er das Land, um die Vereinigten Staaten so weit wie möglich hinter sich zu lassen.«
Cabrillo sah aus dem Fenster. »Scheint, als hätte er sein Ziel erreicht.«
»Tut mir Leid, Juan«, sagte Hanley. »In zwei Tagen, wenn die Gipfelkonferenz zu Ende geht, können wir die Oregonumdirigieren, und Adams könnte dich mit dem Helikopter raufbringen. Im Augenblick ist das alles, was wir kriegen können.«
»Nicht so schlimm«, sagte Cabrillo und warf einen Blick auf seine Notizen. »Das sechste Haus nach der Kirche also.«
»Rote Wände«, sagte Hanley, »und gelbe Zierstreifen.«
»Na schön, dann will ich mir den Verrückten mal ansehen.«
Er unterbrach die Verbindung und trat durch die Tür hinaus.
Cabrillo ließ seine Materialkisten im Flughafen stehen und ging auf ein Schneemobiltaxi zu, neben dem ein halbwüchsiger Inuit wartete. Der Junge runzelte leicht die Stirn, als ihm Cabrillo die Adresse nannte, sagte aber nichts. Er schien sich viel mehr für den Fahrpreis zu interessieren, den er in dänischer Währung nannte.