Was die Menschen zu Michelle hinzog, war etwas, das nicht mit dem Skalpell eines Schönheitschirurgen geschaffen oder durch Kleidung und Maniküre unterstrichen oder auch durch Ehrgeiz oder Wandlungsfähigkeit erzeugt werden konnte. Michelle verfügte über jene ganz besondere Ausstrahlung, die sowohl Männer als auch Frauen dazu brachte, sie zu mögen und in ihrer Nähe sein zu wollen — sie war glücklich, zufrieden und der Optimismus in Person. Michelle Hunt ruhte in sich selbst. Und die Menschen kamen zu ihr wie Bienen zu einer Blume, die in voller Blüte stand.
»Sam«, sagte sie zu dem Anstreicher, der soeben die Wände in ihrer Kunstgalerie mit frischer Farbe verschönt hatte, »Sie verstehen wirklich Ihr Handwerk.«
Sam war achtunddreißig Jahre alt und errötete.
»Für Sie ist das Beste gerade gut genug, Ms. Hunt«, gab er zurück.
Sam hatte die Galerie gestrichen, als sie vor fünf Jahren ihre Tore dort geöffnet hatte, desgleichen ihr Haus in Beverly Hills sowie ihre Ferienwohnung am Lake Tahoe. Und er hatte auch diese letzte Renovierung durchgeführt. Und jedes Mal hatte sie ihm das Gefühl gegeben, von ihr bewundert zu werden und großes Talent zu besitzen.
»Darf ich Ihnen ein Glas Wasser oder eine Cola anbieten?«, fragte sie.
»Ich bin wunschlos glücklich, danke.«
In diesem Augenblick meldete ihre Assistentin aus dem Ausstellungsraum der Galerie, jemand verlange sie am Telefon. Sie lächelte, winkte dem Handwerker zu und entfernte sich.
»Das ist eine Lady«, murmelte Sam, »eine wahre Lady.«
Während sie sich in den Ausstellungsraum begab, wo sie von ihrem Schreibtisch aus auf den Rodeo Drive hinausblicken konnte, bemerkte Michelle, dass einer der Künstler, die sie vertrat, gerade durch den Eingang hereinkam. Auch hier hatte sich ihre sprichwörtliche Liebenswürdigkeit reichlich ausgezahlt — Künstler sind eine empfindliche und launenhafte Spezies, doch Michelles Künstler beteten sie geradezu an und wechselten so gut wie nie die Galerie. Dies und die Tatsache, dass sie ihr Unternehmen mit einem beruhigenden finanziellen Polster begonnen hatte, waren im Wesentlichen die Gründe für die bisher erfolgreichen Jahre.
»Ich wusste, dies würde ein guter Tag sein«, begrüßte sie den bärtigen Mann. »Ich hatte nur keine Ahnung, dass der Grund dafür ein Besuch meines Lieblingskünstlers wär.«
Der Mann lächelte.
»Ich will nur gerade dieses Telefongespräch annehmen«, sagte sie, »dann reden wir.«
Ihre Assistentin geleitete den Künstler zu einer Sitzgruppe mit Sofas und einer kleinen Bar. Während sich Michelle in ihren Schreibtischsessel sinken ließ und nach dem Telefonhörer griff, nahm die Assistentin den Getränkewunsch des Künstlers entgegen und begann dann, ihm einen Cappuccino zuzubereiten.
»Michelle Hunt.«
»Ich bin’s«, antwortete eine raue Stimme.
Diese Stimme bedurfte keiner weiteren Vorstellung. Er hatte ihr den Kopf verdreht, als sie eine junge Frau von einundzwanzig war, soeben aus Minnesota angekommen und auf der Suche nach einem neuen Leben voll Spaß und Sonne — im Südkalifornien der achtziger Jahre. Nach einer wechselvollen Beziehung, bestimmt durch seine Unfähigkeit, eine feste Bindung einzugehen, und die regelmäßige durch seinen Job bedingte Abwesenheit, hatte sie mit vierundzwanzig Jahren seinem Sohn das Leben geschenkt. Und obwohl sein Name nicht auf der Geburtsurkunde erschien — und Michelle und er vorher oder seitdem niemals zusammengelebt hatten — waren sie einander doch eng verbunden gewesen. Zumindest so eng, wie es mit diesem Mann möglich war.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Ich kann nicht klagen.«
»Wo bist du gerade?«
Es war die Standardfrage, die sie immer stellte, um den Anfang zu machen. Im Laufe der Jahre reichten die Antworten von Osaka über Peru und Paris bis Tahiti.
»Moment mal«, sagte er aufgeräumt und blickte auf eine Landkarte, die auf einem Bildschirm in der Nähe des Pilotensessels seines Jets zu sehen war. »Sechshundertsiebenundachtzig Meilen von Honolulu entfernt, unterwegs nach Vancouver in British Columbia.«
»Willst du Skifahren?«, fragte sie. Sport war seit eh und je ihr gemeinsames Hobby gewesen.
»Nein, einen Wolkenkratzer bauen«, antwortete er.
»Du hast immer etwas Besonderes vor.«
»Das stimmt wohl«, gab er zu. »Michelle, ich rufe an, weil ich gehört habe, dass unser Junge nach Afghanistan geschickt wurde«, sagte er ernst.
Michelle hatte keine Ahnung — der Einsatz war immer noch geheim, und Chris hatte seinen Bestimmungsort nicht nennen dürfen, als er den Marschbefehl erhalten hatte.
»O nein«, platzte sie heraus, »das ist nicht gut.«
»Ich hatte mir schon gedacht, dass du das sagen würdest.«
»Wie hast du das rausgekriegt?«, fragte sie. »Ich muss immer wieder über deine Fähigkeit staunen, Informationen zu beschaffen.«
»Daran ist nichts Staunenswertes«, sagte er. »Ich habe so viele Senatoren und andere Politiker in meinen Taschen, dass ich mir irgendwann mal größere Hosen kaufen muss.«
»Hast du irgendwas gehört, wie es läuft?«
»Ich nehme an, die Mission entwickelt sich schwieriger, als der Präsident es sich vorgestellt hat«, sagte er. »Chris führt offensichtlich ein spezielles Eingreifkommando, das die Bösen jagen und zur Strecke bringen soll. Bislang sind die Kontakte mit dem Gegner eher spärlich — aber meinen Quellen zufolge ist es eine kalte und schmutzige Angelegenheit. Wenn er sich für eine Weile nicht bei dir meldet, solltest du dich nicht wundern.«
»Ich habe Angst um ihn«, sagte Michelle schleppend.
»Soll ich meine Beziehungen spielen lassen?«, fragte der Mann. »Damit er dort abgezogen und in die Heimat zurückgeschickt wird?«
»Ich dachte, er hätte dir das Versprechen abgenommen, niemals etwas Derartiges zu tun.«
»Das hat er«, gab er zu.
»Dann lass es auch.«
»Ich ruf dich an, wenn ich mehr weiß.«
»Kommst du irgendwann mal wieder in diese Gegend?«, fragte sie.
»Ich melde mich, wenn es sich ergibt«, versprach er. »Ich sollte jetzt lieber Schluss machen — da ist ein starkes Rauschen auf der Satellitenverbindung. Das muss an den Sonnenflecken liegen.«
»Bete, dass unserem Jungen nichts zustößt«, sagte sie.
»Ich könnte mehr als das tun«, sagte er und unterbrach die Verbindung.
Michelle legte den Telefonhörer hin und lehnte sich zurück. Ihr Ex-Geliebter gehörte nicht zu denen, die offen Angst zeigten. Dennoch war die Sorge um seinen Sohn nicht zu überhören. Sie konnte nur hoffen, dass diese Befürchtungen unbegründet waren und Chris schon bald wieder wohlbehalten heimkehrte.
Sie erhob sich hinter ihrem Schreibtisch und ging zu dem Künstler hinüber. »Ich hoffe, du hast mir etwas Schönes mitgebracht«, sagte sie in lockerem Ton.
»Draußen im Wagen«, erwiderte der Künstler, »ich glaube, es wird dir gefallen.«
Vier Stunden nach Sonnenaufgang und in knapp dreihundertfünfzig Metern Höhe auf der Flanke der Bergkette oberhalb des Lagerplatzes, wo sie die Nacht verbracht hatten, traf Hunts Gruppe auf einen zu allem entschlossenen Feind. Das Feuer kam aus einer Reihe Höhlen direkt über und östlich von ihnen. Und es traf sie unerwartet und mit voller Wucht. Gewehrsalven, Panzerabwehrraketen, Granaten und Pistolenfeuer regneten auf sie herab. Der Feind belegte den Berg mit Dynamitladungen, um Erdrutsche zu erzeugen, und er hatte das Gelände vermint, in dem Hunts Leute Deckung suchten.
Der Feind hatte sich zum Ziel gesetzt, Hunts Trupp auf einen Schlag auszulöschen — und er schaffte es beinahe.
Hunt hatte hinter einer Reihe Felsblöcke Zuflucht gesucht. Geschosse prallten gegen die Felsen und flogen als Querschläger in alle Richtungen, sprengten Gesteinssplitter ab, die seine Männer trafen. Sie konnten sich nirgendwo verstecken, konnten auch nicht weiter vorrücken, und außerdem wurde ihr Rückzugsweg von einem Erdrutsch versperrt.