Gegen Mitternacht würde der Zug den Kanaltunnel verlassen, um fünf Minuten später in Coquelles, in der Nähe von Calais, einzulaufen. Lababiti wäre der Gefahr eines Tunneleinsturzes, wenn die Bombe gezündet würde, entronnen — aber er könnte immer noch den Feuerball vom Zugfenster aus beobachten.
Eine perfekt geplante und zeitlich abgestimmte Flucht.
Er hatte nicht die geringste Ahnung, dass sowohl mehrere Dutzend MI5-Agenten als auch die Corporation jeden seiner Schritte überwachten. Er war der Hase — und die Bluthunde kamen immer näher.
Lababiti verließ den Fahrstuhl, ging durch die Vorhalle und trat hinaus auf die Straße. Er sah sich prüfend um, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Abgesehen davon, dass er das unangenehme Gefühl hatte, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, fühlte er sich sicher und unbeschwert. Das Gefühl war nichts anderes als eine latente Paranoia, dachte er, hervorgerufen durch sein Wissen um den bevorstehenden Vernichtungsschlag. Er verscheuchte die Gedanken mit einem Achselzucken, öffnete die Tür seines Jaguar und stieg ein.
Er startete den Motor und ließ ihn eine Minute lang warm laufen, dann legte er den Gang ein und lenkte den Wagen die paar Schritte bis zum Strand und fädelte sich dort in den fließenden Verkehr ein.
»Ich habe ihn an der Angel«, gab einer der MI5-Agenten per Funk durch.
Der Peilsender, den Truitt am Benzintank befestigt hatte, funktionierte einwandfrei.
Auf dem Bürgersteig, in der Nähe des Eingangs zum Savoy, standen Fleming und Cabrillo und sahen den Jaguar, der an der Ecke darauf wartete, abbiegen zu können. Fleming wandte dem Wagen den Rücken zu und sagte etwas in sein am Hals befestigtes Mikrofon.
»Team vier und Team fünf, folgt ihm unauffällig.«
Der Jaguar bog ab, ein Taxi startete vom Bordstein und fuhr in sicherer Entfernung hinter ihm her. Der Jaguar passierte einen kleinen Kastenwagen mit dem Logo eines rund um die Uhr liefernden Frachtzustelldienstes, der sich ebenfalls in sicherer Entfernung an den Jaguar hängte.
»Der Jaguar war sauber, die Bombe befand sich nicht darin«, sagte Fleming zu Cabrillo. »Was meinen Sie denn nun, wohin Lababiti unterwegs ist?«
»Er flüchtet«, sagte Cabrillo, »und lässt den Jungen zurück, damit er seinen Job ausführt.«
»Und wann sollten wir eingreifen?«, fragte Fleming.
»Lassen Sie ihn bis an seinen Bestimmungsort gelangen«, sagte Cabrillo. »Zum Flughafen, zum Bahnhof- egal wohin. Dann sollten Ihre Männer zuschlagen. Sie müssten aber dafür sorgen, dass er nicht mehr telefonieren kann, ehe sie ihn in Gewahrsam nehmen.«
»Und was dann?«, hakte Fleming nach.
»Dann lassen Sie ihn hierher bringen«, sagte Cabrillo mit eisiger Stimme. »Wir wollen doch nicht, dass er die Party versäumt.«
»Brillant«, erwiderte Fleming.
»Mal sehen, wie weit seine Bereitschaft, für Allah zu sterben, wirklich geht«, sagte Cabrillo.
Je näher Mitternacht rückte, desto mehr nahm auch die Spannung zu.
Die Mikrofone gegenüber Lababitis Apartment nahmen Amad dabei auf, wie er laut betete. Fleming hockte mit einem Dutzend Männer vom MI5 im Hotel auf der anderen Straßenseite. Die drei Teams der Corporation nahmen seit mehr als dreizehn Stunden ihre Positionen ein. Vom Warten wurden sie allmählich müde. Cabrillo marschierte nicht weit von der Bedford Street auf und ab. Dabei war er sicherlich einige hundert Mal an dem Motorradladen, einem indischen Imbissrestaurant und an einem kleinen Supermarkt vorbeigegangen.
»Wir müssen dort reingehen«, meinte einer der MI5-Agenten zu Fleming.
»Und wenn die Bombe nur ein paar Straßen weit entfernt ist«, sagte Fleming, »und jemand einen Zeitzünder mit Einschaltverzögerung in Gang gesetzt hast? Dann ist uns das entgangen — und London geht in Flammen auf. Wir warten — etwas anderes können wir nicht tun.«
Ein weiterer MI5-Agent betrat die Lobby. »Sir«, sagte er zu Fleming, »zur Zeit patrouillieren an die zwanzig von unseren Fahrzeugen in den umliegenden Straßen. Sobald unser Freund in den Wagen steigt, mit dem er seine Mission durchziehen will, können wir sofort den gesamten Verkehr stoppen.«
»Und die Bombenexperten sind in der Nähe und jederzeit einsatzbereit?«
»Es sind vier englische Spezialisten« — der Mann nickte — »und zwei von der U.S. Air Force.«
In diesem Moment verstummten Amads Gebete, und das Mikrofon übertrug seine Schritte auf dem Fußboden des Apartments.
»Ich glaube, es geht los«, informierte Fleming mit Hilfe seines Funkgeräts die Dutzenden von Agenten, die schon seit Stunden auf ein solches Zeichen warteten. »Haltet euch auf jeden Fall von ihm fern, bis er seinen Einsatzort erreicht hat.«
Fleming betete, dass es bald vorüber wäre. Es war 23:49 Uhr.
Das Apartmenthaus war von allen Seiten von Leuten des MI5 umstellt. Jedes Auto auf den Straßen war mit einem Peilsender präpariert worden. An jedem war ein elektronisches Deaktivierungsmodul befestigt worden. Und jeder Wagen war mit einem Geigerzähler überprüft und für sauber befunden worden.
Jeder war überzeugt, dass Amad zu einem anderen Ort fahren würde, um die Bombe abzuholen.
Aber die Bombe befand sich unten im Haus. Sie lag im Beiwagen eines in Russland hergestellten Ural-Motorrads — der gleichen Maschine, auf der Amad im Jemen ausgebildet worden war.
Das Interesse an den angebotenen Leckereien und dem Bier und die ausgelassene Stimmung wurden durch die Kälte und den Schnee nicht gemindert. Die Gegend um den Hyde und den Green Park wimmelte von Tausenden ausgelassener Partygäste. Hinter der Bühne machte ein Verbindungsmann des MI5 den Rockstar mit der kalten Wirklichkeit vertraut.
»Sie hätten uns warnen sollen«, schimpfte sein Agent, »dann hätten wir das Konzert absagen können.«
»Er hat es doch schon erklärt«, sagte Elton John. »Das hätte die Terroristen nur misstrauisch gemacht.«
Bekleidet mit einem gelben, mit Pailletten besetzten Overall, einer mit Brillanten versehenen Brille und schwarzen Schuhen mit leuchtenden Plateausohlen, wäre es leicht gewesen, John als einen dieser verwöhnten und gehätschelten Musiker abzutun, die an ein Leben gewöhnt sind, das nichts anderes als eine ewige Party ist. Die Wahrheit war meilenweit davon entfernt. Reginald Dwight hatte sich aus einer ärmlichen Existenz mit Kraft, Beharrlichkeit und jahrzehntelanger harter Arbeit nach oben gekämpft. Niemand kann die Popcharts Jahrzehnt für Jahrzehnt beherrschen, wenn er nicht zäh und realistisch ist. Elton John war jemand, der den nackten Überlebenskampf aus eigener Anschauung kannte und ohne fremde Hilfe siegreich gemeistert hatte.
»Die königliche Familie wurde doch evakuiert, nicht wahr?«, fragte er.
»Kommen Sie herein, Mr. Truitt«, rief der MI5-Agent vor dem Campinganhänger.
Truitt öffnete die Tür und trat ein.
»Hier ist das Double für Prince Charles«, sagte der Geheimagent.
John sah Truitt kurz an und grinste. »Er sieht genauso aus wie er«, stellte er fest.
»Sir«, sagte Truitt, »ich möchte Ihnen nur versichern, dass wir die Bombe bergen und unschädlich machen werden, ehe etwas Furchtbares passiert. Wir wissen es zu schätzen, dass Sie uns dabei unterstützen.«
»Ich setze großes Vertrauen in den MI5«, sagte John.
»Er ist beim MI5«, sagte Truitt und deutete auf seinen englischen Kollegen. »Ich gehöre zu einer Gruppe, die sich die Corporation nennt.«
»Die Corporation?«, fragte Elton John. »Wer oder was ist das denn?«
»Wir sind Privatspione«, sagte Truitt.
»Privatspione«, wiederholte John kopfschüttelnd, »was es nicht alles gibt. Sind Sie und Ihre Leute gut?«
»Wir haben eine Erfolgsbilanz von hundert Prozent.«
John erhob sich aus seinem Sessel — es wurde Zeit, zur Bühne zu gehen und sich in den Kulissen bereitzuhalten.