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Während er den gegenüberliegenden Rand ins Auge fasste, schätzte er die Breite der Spalte auf vier Meter. Wie tief sie war, bis die Seitenwände zusammenliefen und sich schlossen, ließ sich in dieser Position nicht entscheiden. Er zog die Kapuze seines Parka zum Schutz vor dem heulenden Wind zu. Nur ein paar Schritte weiter, und die Schneekatze wäre in die Schlucht gekippt und abgestürzt, bis die Spalte zu eng geworden und sie kopfüber zwischen den Eiswänden eingeklemmt worden wäre. Selbst wenn Cabrillo den Absturz überlebt hätte, wäre sein Schicksal wahrscheinlich besiegelt gewesen, da er nicht aus dem Führerhaus herausgekommen wäre. Er wäre erfroren, ehe ihn jemand hätte finden geschweige denn retten können.

Während ihn diese Erkenntnis erschauern ließ, ging Cabrillo zur Thiokol zurück, kletterte ins Führerhaus und sah auf die Uhr. Es war jetzt fünf Uhr morgens, doch immer noch so dunkel wie den ganzen Abend zuvor. Er zog die Landkarte zu Rate, dann nahm er seinen Stechzirkel zur Hand und maß die Entfernung bis zum Mount Forel. Gut fünfzig Kilometer und drei Stunden Fahrt lagen noch vor ihm. Er ergriff das Satellitentelefon und wählte Campbells Nummer. Zu seiner Überraschung brauchte er nur einen einzigen Rufton lang zu warten.

»Ja, was ist?«, fragte Woody Campbell mit klarer, deutlicher und wacher Stimme.

»Ich wäre gerade beinahe in einer Spalte gelandet.«

»Geben Sie mir Ihre GPS-Zahlen«, verlangte Campbell.

Cabrillo las sie laut ab und wartete, während sich Campbell mit seiner Landkarte von Kulusuk beschäftigte.

»Sieht so aus, als seien Sie vor etwa zwei Kilometern falsch abgebogen«, erklärte er ihm, »und zwar sind Sie nach links statt nach rechts gefahren. Sie stehen jetzt vor dem Nunuk-Gletscher. Kehren Sie um und folgen Sie dem Rand des Gletschers. Dabei überqueren sie eine kleine Anhöhe und erreichen dann tiefer gelegenes Gelände. Von dort aus sollten Sie den Forel sehen können, wenn es draußen klar und nicht stockdunkel wäre.«

»Sind Sie sicher?«, fragte Cabrillo.

»Hundert pro. Ich war früher schon mal in der Schlucht — das ist eine Sackgasse.«

»Etwa zwei Kilometer zurück und dann nach links«, rekapitulierte Cabrillo.

»Für Sie bedeutet es, nach rechts abzubiegen«, korrigierte Campbell eilig, »Sie haben nämlich die Richtung geändert.«

»Und dann folge ich dem Gletscherrand?«

»Ja, aber im Augenblick, während Sie ohnehin stehen, sollten Sie aussteigen und die Lampe auf der Fahrerseite zur Seite drehen. Auf diese Weise können Sie den Gletscherrand ständig beobachten, sobald Sie ihn erreichen. Wenn das Licht reflektiert wird, sieht es aus wie Jade oder Saphire — schauen Sie gelegentlich dorthin, um abzuschätzen, wie weit Sie gekommen sind. Sobald der Gletscherrand zurückweicht, erreichen Sie einen Bergrücken, und danach geht es wieder abwärts. Das bedeutet gleichzeitig, dass Sie den Nunuk-Gletscher hinter sich lassen. Danach haben Sie die Flanke des Mount Forel vor sich. Sie ist ziemlich steil, aber die Thiokol schafft den Aufstieg — ich bin’s mit dem guten Stück früher schon mal gefahren.«

»Danke«, sagte Cabrillo. »Meinen Sie, Sie könnten noch ein paar weitere Stunden durchhalten, falls ich Sie brauche? Ich meine nüchtern und halbwegs wach?«

»Ich trinke gerade genug, um einigermaßen fit und am Ball zu bleiben«, sagte Woody Campbell. »Und bin da, wenn Sie mich brauchen.«

»Gut«, meldete sich Cabrillo ab und schaltete das Telefon aus.

Er verließ abermals das Führerhaus der Thiokol und richtete die Lampe zur Seite. Dann stieg er wieder ein, schaltete in den ersten Gang und wendete die Schneekatze um 180 Grad auf der Stelle. Langsam tastete er sich vorwärts, erreichte nach ein paar Metern den Rand des Gletschers und folgte ihm.

Der Mount Forel war nicht mehr weit entfernt, doch bei dem Schneetreiben und in der Dunkelheit blieb er seinem Blick noch immer verborgen.

Cabrillo musste den Berg erreichen und ihm sein Geheimnis entlocken. Aber da war noch jemand anders mit der gleichen Absicht — und der hielt sich nicht an die gleichen Fair-play-Regeln wie die Corporation. Es war klar, dass sie beide irgendwann zusammenstoßen würden.

Dem Emir blieb nicht verborgen, dass der Helikopter in der Luft abbremste, als sich Al-Khalifa dem Heck der Akbar näherte und die Maschine behutsam auf dem Landefeld aufsetzte. Sobald Matrosen die Gleitkufen mit Ketten gesichert hatten und die Rotorblätter zusammengeschoben worden waren, umrundete Al-Khalifa die Maschine, entriegelte die Tür und schleifte seinen Gefangenen in den Hauptsalon. Die Augen des Emirs waren noch immer zugeklebt, doch er konnte ungefähr ein halbes Dutzend arabische Stimmen ausmachen. In der Luft im Salon lag der Geruch nach Schießpulver, Öl und einem seltsamen süßen Mandelaroma.

Nachdem er eine kurze Treppe zu einem tiefer gelegenen Deck hinuntergeschafft worden war, wurde der Emir unsanft auf ein Bett geworfen und mit dickem Klebeband an Händen und Füßen gefesselt. Er lag wie ein schlachtreifes Huhn auf dem Rücken. Der Emir hörte, wie Al-Khalifa befahl, vor der Tür einen Wachtposten aufzustellen. Dann war er allein und konnte seinen Gedanken über sein nun ungewisses Schicksal nachhängen.

Abgesehen davon, dass sein Gesicht wegen der Hitze in der Kabine zu schwitzen begonnen hatte, war der Mann allerdings nicht allzusehr besorgt. Wenn Al-Khalifa vorhatte, ihn zu töten, hätte er es längst getan. Das war das eine, und außerdem wusste er, dass ihn seine Freunde in der Corporation schon bald finden würden. Wenn er sich nur die Nase unter der Plastikfolie kratzen könnte — er würde sich um einiges besser fühlen.

»Montiert die Abschussvorrichtung«, befahl Al-Khalifa, während er in den Hauptsalon zurückkehrte. »Ich muss so bald wie möglich zum Berg fliegen.«

Vier von den Männern gingen hinaus und begannen mit der Arbeit. Die Montage ging nur sehr langsam vonstatten — Wind, Regen und Schnee peitschten über das Deck der Akbar. Doch die Männer waren bestens ausgebildet und ließen sich nicht so leicht unterkriegen. Knapp eine halbe Stunde später kam ihr Anführer wieder herein und wischte sich die Schneebrille ab.

»Der Raketenwerfer ist einsatzbereit«, sagte er zu Al-Khalifa.

»Hol die Männer rein. Sie sollen zum Tisch kommen.«

Die Terroristenteams nahmen auf den Stühlen an dem langen Tisch Platz. Die Versammlung bestand aus einer Vereinigung von Mördern und Schlägern. Sie sahen Al-Khalifa erwartungsvoll an.

»Allah hat uns wieder belohnt«, begann Al-Khalifa. »Wie ihr mit eigenen Augen sehen konntet, habe ich den Emir, der mein Land regiert, diesen Lakaien des Westens, in meine Gewalt gebracht und eingesperrt. Schon bald werde ich den Thron besteigen. Hinzu kommt, dass mich ein westlicher Verräter auf den Fundort einer Kugel aus Iridium aufmerksam gemacht hat, die wir in Verbindung mit der Bombe, die für London bestimmt ist, einsetzen können. Wenn ich dieses Iridium in meinen Besitz bringen kann, wird es die vernichtende Wirkung der Bombe mindestens um das Hundertfache steigern.«

»Allah sei gepriesen!«, riefen die Männer am Tisch spontan.

»Im Augenblick ist die Akbar zur Ostküste Grönlands unterwegs«, fuhr Al-Khalifa siegessicher fort. »In ein paar Stunden, wenn wir dort eintreffen, fliege ich mit dem Helikopter los und hole das Iridium. Sobald ich wieder zurück bin, nehmen wir Kurs auf England — und der Abschluss unserer Mission steht bevor.«

»Es gibt nur einen Gott, und dieser Gott ist Allah!«, riefen die Versammelten.

»All jene, die ihren Dienst versehen haben, sollten sich jetzt ausruhen«, sagte Al-Khalifa. »Jeder muss hellwach sein, wenn wir England erreichen. Schon bald werden all jene, die Allah missachten, unseren Zorn zu spüren bekommen.«