Ich weiß nicht mehr recht, was ich persönlich noch glaube. So viel hat sich verändert, seit ich das Labyrinth des Wahnsinns durchschritten habe. Ich bin dort mit etwas in Berührung gekommen, das viel größer war als ich, aber ob es das Labyrinth selbst war oder etwas, womit mich das Labyrinth in Verbindung brachte… Und danach bin ich gestorben und wurde ins Leben zurückgerufen. Meine Gedanken, meine Erinnerungen, mein… Selbst hätten für immer verloren sein müssen, aber hier bin ich! Ich kann mich nicht an den Zustand des Todes erinnern. Owen, Ihr sagtet, ich hätte mit Euch gesprochen, sogar nachdem mich der Grendel getötet hatte.«
»Das habt Ihr«, beharrte Owen. »Ich hörte Eure Stimme, tief in den Höhlen der Wolflingswelt. Ihr nanntet mir die korrekte Öffnungssequenz, um die Gruft der Hadenmänner zu öffnen.
Ohne das… wäre alles anders verlaufen.«
»Dann habe auch ich etwas mit der Obersten Mutter Beatrice zu besprechen«, sagte Mond. »Selbst wenn es nur die wahre Natur der Schuld ist. Ich interessiere mich für ihre Antworten.«
»Jetzt mal langsam«, warf Bonnie ein. »Bitte ein Stück zurückspulen. Ich denke, ich habe da irgendwas nicht mitbekommen. Warum zum Teufel möchten die Hadenmänner diesen verdammten Planeten überhaupt erobern? Ich meine, hier gibt es keine Tech, keine Mineralvorkommen, nur Pflanzen mit bedenklicher Einstellung und Kolonisten, die ihre Finger nachzählen müssen, wenn sie jemandem die Hand geschüttelt haben. Warum sollten die Hadenmänner hier Truppen und Ressourcen vergeuden? Mond, hat dieser Planet irgendeine strategische Bedeutung für die Hadenmänner?«
»Nicht, daß ich wüßte«, antwortete Mond. »Die Kolonisten sind nicht als Material für neue Hadenmänner geeignet, und der Planet kommt weder für eine Basis noch für ein Nest in Frage.
Ich kann nur vermuten, daß es hier etwas Einzigartiges gibt, hinter dem sie her sind, was wir aber bislang nicht kennen.«
»Nun, falls wir hier über Einheiten der Invasionstruppen stolpern, versucht, wenigstens einen am Leben zu lassen«, sagte Owen. »Ich halte ihn dann fest, und Hazel kann ihm Fragen stellen.«
»Ich habe auch eine Frage an Sankt Bea«, sagte Hazel.
»Nämlich, was zum Teufel wir fünf gegen eine ganze Invasionsarmee ausrichten sollen, und das auch noch ohne Schiff, ohne Waffen, ohne Unterstützung.«
»Vielleicht hofft sie auf ein Wunder«, sagte Owen.
Letztlich kostete es sie einen Tag und eine Nacht und den größten Teil des nächsten Tages, Sankt Beas Missionsstation zu erreichen – eine Zeit, die sie damit zubrachten, sich durch den Dschungel und den Matsch und den Regen zu kämpfen. Sie tranken Wasser von stehenden Teichen, auf die sie zuzeiten trafen. Es schmeckte brackig, und alle bekamen davon einen leichten Anflug von Renneritis, aber wenigstens konnten sie es unten behalten. Beim Herumprobieren, welche Pflanzen im Dschungel gefahrlos eßbar waren, hatten sie weniger Glück.
Das meiste kam ihnen gleich wieder hoch und schmeckte dabei doppelt so schlecht wie eben noch. Richtigen Schutz vor dem Regen gab es nicht, und so verbrachten sie die Nacht, indem sie elend um einen Baum herumsaßen und zu schlafen versuchten. Als sie endlich die Mission erreichten, waren sie müde, durchgefroren, hungrig und sehr naß.
Eine Vorwarnung erfolgte nicht. Eben noch zwängten sie sich durch eine weitere Folge dichtstehender Bäume, und im nächsten Augenblick fanden sie sich auf einer ausgedehnten Lichtung wieder, die Missionsstation in der Mitte. Auf etwa sieben Meter freien Geländes folgte eine hohe Holzwand, die die Außengrenze der Station markierte. Die Palisade mußte aus enggepackten schwarzen Baumstämmen bestehen und wirkte beruhigend solide. Die eigentliche Missionsstation hatte die
Ausmaße eines kleinen Dorfs. Lange, schräge Holzdächer bedeckten alles in der Siedlung. Ein einzelnes Tor begrüßte die Gefährten, etwa vier Meter hoch und drei breit, flankiert von hölzernen Wachttürmen. Eindeutig eine Welt mit geringem technischem Entwicklungsstand, dachte Owen. Es wäre mir zuwider, wenn ich miterleben müßte, was eine Disruptorkanone mit dieser Wand anstellt. Es wäre mir zuwider, wenn ich nachsehen müßte, was sie hierfür sanitäre Anlagen haben.
Owen trat auf die Lichtung hinaus, und die Posten auf den Wachttürmen entdeckten ihn sofort und gaben Alarm. Er führte seine Gefährten langsam über die offene Fläche. Bewaffnete erschienen auf einem Steg, der sich an der Oberseite der Palisade entlangzog. Es waren Gestalten in Mantel und Kapuze, einige mit Energiewaffen ausgerüstet, die meisten mit Pfeil und Bogen. Owen empfand keinerlei Verachtung für die Bögen.
Ein Pfeil konnte einen Menschen ebensogut umbringen wie alles andere, wenn er die richtige Stelle traf. Owen brummte seinen Gefährten zu, sie sollten die Hände deutlich auf Distanz zu den eigenen Waffen halten, und behielt die Wachleute auf den Türmen selbst im Auge. Einer richtete etwas auf die Neuankömmlinge, was ein Fernrohr zu sein schien. Hoffentlich beruhigten sich die Bewaffneten auf der Palisade, sobald der Späher die Fremden als Menschen identifiziert hatte, nicht als Hadenmänner, aber Owen hielt sich trotzdem für alles bereit.
So müde er war, er blieb doch überzeugt, daß er einem Pfeil ausweichen konnte. Verdammt, er konnte wahrscheinlich dem Bogenschützen den Kopf von den Schultern schießen, ehe er die Sehne richtig gespannt hatte, aber Owen fand, daß er darauf doch lieber verzichten sollte. Es wäre eindeutig nicht die beste Möglichkeit gewesen, bei Sankt Bea einen guten ersten Eindruck zu machen. Mutter Beatrice, nahm er sich entschlossen vor. Sie mag es überhaupt nicht, wenn man sie Sankt Bea nennt. Seine Gruppe erreichte das Haupttor, ohne daß auf beiden Seiten ein Fall von nervösem Finger aufgetreten wäre, und Owen blickte zum linken Wachtturm hinauf und blinzelte durch den Regen.
»Owen Todtsteltzer und seine Gruppe sind hier auf Ersuchen der Obersten Mutter Beatrice Cristiana erschienen. Wie wäre es, wenn Ihr uns einlaßt, ehe wir hier draußen alle ertrinken?«
»Bleibt, wo Ihr seid«, meldete sich eine heisere Stimme vom Wachtturm. »Wir haben einen Boten zur Obersten Mutter geschickt. Sie wird Euch erst identifizieren müssen.«
»Sei nicht so ein Esel, Sohn«, war eine andere Stimme vom Wachtturm zu vernehmen. »Das ist wirklich der Todtsteltzer.
Habe sein Gesicht in einem Dutzend Holodokumentationen gesehen, ehe ich hierherkam. Er war ein Held der Rebellion.
Und das neben ihm ist Hazel D’Ark.«
»Das ist Hazel D’Ark?« fragte die erste Stimme. »O verdammt! Ist es nicht schon schlimm genug, leprakrank zu sein, auch ohne sie hier zu haben?«
Owen sah Hazel an. »Eure Reputation spricht sich herum.«
»Gut«, sagte sie. »Jetzt sag ihm, sie sollen endlich Tempo machen, oder ich trete ihr Tor ein und füttere sie mit den Angeln.«
»Ich habe das verstanden«, sagte die zweite Stimme. »Bitte laßt unser Tor in Ruhe. Es ist unser einziges. Wartet eine Minute, bis wir die Riegel zurückgezogen haben, dann lassen wir Euch ein. Die Oberste Mutter ist gleich hier, und es gibt warme Mahlzeiten und trockene Kleider für Euch alle.«
»Und eine Leine für Hazel D’Ark«, sagte die erste Stimme.
»Ich habe das verstanden!« rief Hazel.
Eine Pause trat ein. »Wißt Ihr, wer ich bin?« fragte die erste Stimme.
»Nein.«
»Dann, denke ich, belassen wir es dabei.«
Das Tor öffnete sich knarrend, während sich Hazel noch den Kopf nach einer passend verheerenden Antwort zerbrach. Alle Feindschaft war jedoch vergessen, als Owen und seine Gruppe in die Siedlung eilten, froh darüber, endlich aus dem Regen zu kommen. Hinter dem Tor lag ein weiträumiger Platz, der bereits halb mit Gestalten in Mantel und Kapuze gefüllt war, und weitere trafen ständig ein. Alle hatten die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, was sie einander unheimlich ähnlich und zu einer anonymen Masse machte. Sie erinnerten an eine Zusammenkunft etwas zerlumpter, grauer Gespenster. Owen stand tropfend vor ihnen und lauschte dem sehr erfreulichen und beruhigenden Klang des Regens, wie er aufs Dach trommelte. Er blickte sich langsam um, versuchte abzuschätzen, was ihn hier für ein Empfang erwartete, und dann hob die Menge die Stimme zu einem heiseren Jubel. Owen hörte ihn sich eine Zeitlang an. Er hatte durchaus das Gefühl, ihn verdient zu haben.