»Inzwischen bin ich weder Mensch noch Hadenmann«, sagte Mond stirnrunzelnd. »Ich entwickle mich zu etwas Neuem.
Etwas, was anders ist. Meine Augen leuchten weiterhin und die Stimme summt weiterhin, aber vielleicht nur, weil ich damit rechne. Ihr seid diesen Weg schon weiter gegangen als ich, Owen. Was wird aus mir?«
»Ich habe keine Ahnung«, sagte Owen. »Vielleicht etwas, wozu uns Name und Vorstellung fehlen. Noch.«
»Ich empfinde etwas, wenn ich darüber nachdenke, Owen.
Ich denke… ich habe Angst.«
»Das haben wir alle. Das Unbekannte flößt immer Angst ein.
Zweifellos fürchtet sich auch die Raupe davor, zum Schmetterling zu werden, schon während ihre Instinkte sie zwingen, den Kokon zu spinnen. Wir haben keine Kontrolle über das, was aus uns wird, also… genießt die Reise! Und vergeßt nicht, daß Ihr unter Freunden seid.«
»Ich habe die Leprakranken beobachtet. Wenn sie sich ihrer Veränderung mit solchem Mut zu stellen vermögen, kann ich es auch.« Er warf einen Blick zur Seite, auf Owen. »Ich denke, daß… etwas Neues in mir heranreift. Ich kann… Dinge spüren. Dinge, die niemandem sonst erkennbar sind. Es ist keine Telepathie. Vielleicht eher Empathie. Aber egal was, glaubt mir, wenn ich Euch sage, daß wir hier nicht allein sind. Da draußen im Dschungel ist noch etwas anderes. Etwas, was verborgen und sehr mächtig ist.«
»Die Armee der Hadenmänner?«
»Nein. Mein eigenes Volk würde ich erkennen. Das Wesen, von dem ich spreche, ist lebendig, unterscheidet sich aber von allem, was mir je begegnet ist. Seine Gedanken laufen langsam ab, aber es wird zornig. Und es weiß, wo wir sind.«
»Hat es einen Namen, eine Identität?«
»O ja«, sagte Tobias Mond. »Es ist das Rote Hirn.«
Hazel D’Ark hatte sich ihren beiden Varianten angeschlossen und tauschte mit ihnen Klatsch über die jeweiligen Owens aus, als eine einzelne Leprakranke ihnen müde in den Weg humpelte. Die drei Frauen blieben abrupt stehen, um die Kranke nicht umzurennen, und diese sank vor Hazel auf die Knie.
»Verzeiht meine Unverschämtheit, Gesegnete, aber seid Ihr nicht Hazel D’Ark, die Befreierin von Golgatha?«
»Nun, ja«, bestätigte Hazel. »Obwohl ich es eigentlich nicht allein vollbracht habe. Möchtest du etwas von mir?«
Die Leprakranke schlug die Kapuze zurück und legte damit ein Gesicht frei, das zur Hälfte verfault war. Flecken kahler Knochen schimmerten zwischen den verbliebenen Haarresten hervor, und dort, wo die linke Wange hätte sein müssen, hatte man freien Blick auf die Zähne. Aus der Nähe war der Geruch entsetzlich, auch wenn sich Hazel und ihre Gefährtinnen bemühten, das nicht zu zeigen. Die Leprakranke schob eine graue Hand unter dem Mantel hervor. Sie war bis auf die Knochen abgemagert und hatte nur noch zwei Finger. Die Kranke hielt sie Hazel in einer bittenden Geste entgegen.
»Ihr seid von Gott berührt worden, meine Dame. Ihr habt Wunder gewirkt. Ich habe es im Holo gesehen. Wirkt ein weiteres Wunder für mich, ich bitte Euch. Heilt mich!«
Hazel wich schockiert einen Schritt zurück. »Ich… kann das nicht! Ich weiß nicht, wie.«
»Ihr habt Eure eigenen furchtbaren Verletzungen geheilt. Ihr wurdet von Gott gesegnet. Legt mir nur die Hand auf, und auch ich werde geheilt werden. Das weiß ich!«
Hazel wandte sich hilfesuchend an Bonnie und Mitternacht, aber auch sie waren benommen. Hazel sah wieder die Kranke vor ihr an und hatte keinen Schimmer, was sie sagen sollte.
Also streckte sie schließlich doch die Hand aus, wobei ihr die Haut kribbelte, und legte sie der Kranken fest aufs Haupt. Beide warteten sie ein paar Augenblicke lang, aber nichts geschah.
Nach einer Weile seufzte die Leprakranke und stand auf.
»Danke, daß Ihr es versucht habt, meine Dame. Mein Glaube war nicht stark genug. Ich werde Euch nicht mehr belästigen.«
Sie schlug wieder die Kapuze über den verwüsteten Kopf und humpelte langsam davon. Hazel blickte ihr nach und betrachtete dann die Hand. Sie rieb sie sich an der Seite ab und hörte wieder auf, beinahe schuldbewußt. Sie stellte fest, daß noch andere Leprakranke sie ansahen.
»Ich hätte ihr geholfen, wenn ich in der Lage gewesen wäre.«
Niemand sagte etwas, und nach einer Weile setzte Hazel ihren Weg fort. Bonnie und Mitternacht folgten ihr ein Stück weit zurück.
Die Hadenmänner griffen an, kaum daß der Morgen heraufdämmerte. Der Regen prasselte hernieder, als tobte er einen Groll aus, aber die Aufgerüsteten schienen ihn nicht mal zu bemerken. Sie strömten von allen Seiten auf die Lichtung, nachdem sie sich mit brutaler Gewalt einen Weg durch die dichtstehenden Bäume gebahnt hatten, wobei das Holz unter der Wucht ihrer Servomotoren splitterte und krachte. Die Wachen auf den Türmen gaben als erste Alarm, und die Leprakranken rannten zur Palisade, um die Missionsstation zu verteidigen. Hunderte Hadenmänner marschierten schweigend durch den Regen und attackierten, ohne eine Herausforderung zu äußern oder Kriegsrufe von sich zu geben. Sie kamen in endlosen Reihen aus dem Dschungel hervor, groß und vollkommen wie lebende Götter, anmutig über alle Maßen. Ihre Augen brannten wie Sonnen, und sie hielten Strahlenwaffen in den Händen.
Ein Hagel von Pfeilen prasselte auf sie ein, aber die meisten davon prallten von der körpereigenen Panzerung ab. Wo die Pfeile doch in Fleisch eindrangen, zogen die Aufgerüsteten sie einfach heraus und warfen sie zu Boden. Sie eröffneten mit den Faustdisruptoren das Feuer, schossen Löcher in die Holzwand und konzentrier ten das Feuer so, daß die Löcher groß genug wurden, um ihnen Einlaß zu verschaffen. Die Palisade flackerte hier und dort kurz auf, aber der schwere Regen löschte sie rasch wieder. Und sobald die Hadenmänner die Palisade erreicht hatten und die ersten auf den Platz dahinter vordrangen, war es ein Kampf Mann gegen Mann.
Die Leprakranken auf dem Laufsteg hielten einen konstanten Pfeilregen aufrecht, und hin und wieder stürzte einer der Aufgerüsteten mit einem Pfeil im Auge zu Boden und erhob sich nicht mehr. Andere Verteidiger gossen kochendes Öl auf Hadenmänner, die gerade durch die Löcher in der Palisade kletterten. Die wenigen Verteidiger, die über Strahlenwaffen verfügten, suchten sich ihre Ziele sorgfältig aus und verfluchten die beiden langen Minuten, die ihre Disruptoren brauchten, um sich zwischen zwei Schüssen wieder aufzuladen. Innerhalb der Palisade warfen sich Kämpfer den Invasoren entgegen und hielten sie mit schierer Masse zurück.
Owen und Hazel kämpften Seite an Seite vor dem größten Loch, und jeder Hadenmann, der in Reichweite ihrer Waffen kam, starb. Und so schnell die aufgerüsteten Menschen auch waren, Owen und Hazel erwiesen sich als schneller. Sie brachten die Invasoren zum Stehen und trieben sie dann Schritt für Schritt wieder auf die Lichtung hinaus, wobei sie die Leichen der Gefallenen mit den Füßen aus dem Weg beförderten, um ihre unmenschlichen Gegner zu erreichen.
Bonnie Chaos und Mitternachtsblau tanzten zwischen den Aufgerüsteten herum und lachten und sangen, während sie töteten. Bonnie stürzte sich ins dichteste Getümmel und streckte jeden nieder, der in ihre Reichweite kam. Sie achtete der Wunden nicht, die sie selbst einsteckte. Sie heilten so schnell, daß Bonnie den Schmerz kaum spürte, und hätte sie es doch getan, wäre es ihr gleich gewesen. Sie verkörperte Tod und Zerstörung, und niemand hielt ihr stand. Mitternacht teleportierte auf dem Platz hin und her, tauchte jeweils gerade lange genug auf, um jemanden niederzustrecken, und war schon wieder verschwunden. Sie schien überall gleichzeitig zu sein, und wo sie war, fiel ein Hadenmann.
Die beiden Ruhmreichen Schwestern erschienen schreiend aus dem Nirgendwo und schwangen ihre Schwerter so schnell, daß niemand ihnen folgen konnte. Brutal attackierten sie die Hadenmänner, schlugen nach den verletzlichen Gelenken und ungeschützten Hälsen. Schwester Marion schritt steifbeinig ins dichteste Getümmel und schwankte hin und her, war irgendwie nie dort, wo der Gegner sie erwartete. Sie holte mit dem Schwert weit aus, durchschnitt direkt die leuchtenden Augen eines Hadenmanns und gab ihrer Beute mit dem Messer den Rest, indem sie die dicken Adern an der Oberseite der Schenkel durchtrennte. Blut spritzte auf ihre unheimliche Hexenkluft und schien dort perfekt zu passen.