Der Todtsteltzer.
Aber allzu schnell kam der Zeitpunkt, an dem ihn selbst Notwendigkeit und Entschlossenheit keinen Schritt mehr weiterführten. Seine sterbliche Gestalt war nie dazu gedacht gewesen, soviel Energie für so lange Zeit zu kanalisieren, und schließlich konnte er nichts mehr zusetzen. Owen fiel auf die Knie. Er war sehr müde. Er hatte so viel vollbracht. Vielleicht konnte er jetzt schlafen, und wenn er Glück hatte, träumte er nicht. Er kippte nach vorn und fiel mit dem Gesicht auf den blutgetränkten Boden. Die Winde erstarben und die Erde bebte nicht mehr, und die Wut des Todtsteltzers schlug nicht mehr auf die Luft ein.
Hazel D’Ark erlebte seinen letzten Augenblick des Ruhms mit und sah ihn fallen. Voll Ehrfurcht hatte sie verfolgt, wie sein Zorn die Grendels wegfegte, aber jetzt schrie sie auf und lief zu ihm hinüber. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, aber keine Reaktion erfolgte. Hazel schrie erneut auf, als Schrecken und Entsetzen und der Schmerz eines schließlich doch brechenden Herzens sie überwältigten. Sie hätte gern geweint, aber sie wußte nicht wie. Sie hatte es noch nie getan.
Sie blickte auf und sah, wie sich die letzten Grendels neu formierten. Owen hatte viele von ihnen umgebracht, aber immer noch gab es verdammt viel mehr. Mehr als genug, um die Kommunikationszentrale niederzureißen und jedes lebende Wesen darin hinzumetzeln. Sie rückten langsam vor, entblößten die Stahlzähne, beugten ihre Stahlklauen, und Hazel blickte ihnen entgegen und zeigte ihnen das kälteste Lächeln ihres Lebens. Sie würden für das bezahlen, was sie getan hatten. Sie alle.
Sie hatte sich einzureden versucht, daß ihre besondere Gabe nicht gebraucht wurde. Daß die Mission bereits genügend Verteidiger hatte. Daß sie keine weiteren Varianten ihrer selbst herbeirufen und zusehen mußte, wie sie eine nach der anderen starben. Bonnie und Mitternacht hatten ihr die anderen Versionen ihrer selbst direkter spürbar gemacht als je zuvor. Aber sie brauchte sie jetzt, also rief sie nach ihnen, nicht im eigenen Namen, sondern dem Owens. Rief sie herbei, den Todtsteltzer zu retten.
Und sie kamen.
Auf einmal war das Gelände voller Hazel D’Arks, die vor Wut und Verlust schrien. Und die Grendels, die Owens Angriff überstanden hatten, sahen sich mit einer Armee von Kriegerinnen konfrontiert, die von Gesicht und Gestalt verschieden, aber alle in Schmerz und Gram vereint waren. Ein Augenblick trat ein, in dem beide Seiten einander ansahen und jeweils einen würdigen Gegner entdeckten. Dann liefen die Fronten aufeinander zu und prallten zusammen, und das Sterben begann. Disruptoren tosten und Stahl blitzte auf, und Zahne und Klauen aus Metall rissen menschliches Fleisch auf. Für jede Hazel, die starb, tauchte jedoch eine weitere auf und trat an ihre Stelle.
Hazel D’Ark hatte ein Tor geschaffen, wodurch ein endloser Strom anderer Versionen ihrer Person strömen konnte, so lange sie gebraucht wurden oder solange Hazel D’Ark es verkraftete.
Sie wußte, daß die Anstrengung tödlich für sie war, und gab einen Dreck darauf. Sie wollte die Leprakranken retten, nicht so sehr, weil sie sich etwas aus ihnen gemacht hätte, sondern weil Owen ihr darin Vorbild war. Sie kniete neben ihm, und die Kraft sickerte aus ihr heraus wie Blut aus einer offenen Ader. Hazel legte ihm sachte eine Hand auf die Schulter. Sie hatte einen so weiten Weg mit Owen Todtsteltzer zurückgelegt, und falls sie ihm ins Reich der Toten folgen mußte, dann war sie jetzt dazu bereit.
Jemand rief ihren Namen. Immer wieder, und in einer merkwürdigen summenden Stimme. Langsam wandte sie den Kopf und entdeckte Tobias Mond, der neben ihr kniete.
»So können wir nicht gewinnen!« sagte er eindringlich. »Es sind einfach zu viele. Aber als ich sah, wie Ihr Eure Kraft benutzt habt, wußte ich, wie ich meine einsetzen kann. Ich weiß, was ich tun muß. Vertraut mir! Verbindet Eure Gedanken mit meinen, und wir können diese Schlacht auf andere Art gewinnen!«
»Wie?« fragte Hazel.
»Das Rote Hirn«, erklärte Mond. »Es befindet sich nicht im Dschungel. Es ist der Dschungel.«
Und sein Bewußtsein griff nach Hazels Gedanken aus und stellte den Kontakt her. Und durch sie erreichte Mond all die übrigen Hazels. Bonnie und Mitternacht waren ebenfalls einbezogen, und irgendwie auch Owen. Sie alle verschmolzen miteinander und wurden zu etwas, das mächtiger war als die Summe seiner Teile. Das kombinierte Bewußtsein expandierte weiter und erreichte alle lebenden Gehirne der Mission, vom kränksten Opfer der Lepra bis zu Sankt Bea selbst. Und gemeinsam wandten sie sich nach außen, zusammengeschmiedet zu einer Kraft, einem Gedanken, und faßten das Rote Hirn an – die Bewußtseinsgestalt allen pflanzlichen Lebens auf Lachrymae Christi. Der Dschungel, Millionen Quadratkilometer davon, war ein zusammenhängender Leib, und sein Bewußtsein war das Rote Hirn.
Das war es, was die Hadenmänner hier gesucht hatten und wozu Shub die Grendels geschickt hatte, damit sie es in ihre Gewalt brachten oder beherrschten oder vernichteten – eine ganz neue Form von Bewußtsein, nirgendwo sonst im Imperium bekannt. Ein Bewußtsein von der Größe eines Planeten.
Die Gedanken des Roten Hirns liefen langsam, bewegten sich mit dem Rhythmus von Tag und Nacht und dem Wechsel der Jahreszeiten, unaufhörlich sterbend, unaufhörlich lebend, unermeßlich alt. Allein seit Jahrtausenden, bis es von dem eben neu entstandenen Bewußtsein berührt wurde. Freundschaft war eine neue Erfahrung, ebenso die Freude darüber, nicht mehr allein zu sein, aber gleichzeitig lernte das Rote Hirn, was Bedürfnis und Notwendigkeit waren. Es dehnte seinen gewaltigen und machtvollen Körper, um dem neuen Freund zu helfen.
Im Dschungel entstand rings um die Missionsstation plötzlich Bewegung, mit einer Geschwindigkeit, wie es sie noch nie zuvor gegeben hatte. Bäume entwurzelten sich selbst und kippten über die Palisade. Und über diese Brücken drang der Dschungel vor und fiel über die Grendels her. Stachelpeitschen und kriechende Rebengewächse wickelten sich um die Fremdwesen und zerfetzten sie. Mörderische Pflanzen mit klaffenden Mäulern und fürchterlicher Kraft platzten aus dem verwüsteten Erdboden des Geländes hervor, von der Not des Dschungels aus der Tiefe herbeigerufen. Grendels wurden verschluckt oder in Stücke gerissen, unfähig, sich gegen den Willen des Dschungels zu wehren. Die Fremdwesen wandten sich zur Flucht, aber sobald sie aus der Station heraus waren, tauchten gewaltige, saugende Gruben unter ihren Füßen auf und zerrten sie herab. Und nur wenige Minuten, nachdem alles begonnen hatte, wurde der Dschungel wieder still und waren keine Grendels mehr übrig, die er noch hätte umbringen können.
Das Rote Hirn und das menschliche Massenbewußtsein berührten einander erneut. Tief in seiner unvorstellbar fernen Vergangenheit war das Rote Hirn schon einmal nicht allein gewesen, aber das lag so weit zurück, daß es mehr Instinkt als Erinnerung war. Nach der langen Zeit der Einsamkeit war das Dschungelbewußtsein überglücklich, wieder Gemeinschaft zu erleben, und es bat das Menschenbewußtsein, es nicht wieder zu verlassen. Trotz des enormen Alters war das Rote Hirn nur ein Kind. Der Menschengeist beruhigte es. Unter den Leprakranken fanden sich auch Esper. Jetzt, wo beide Seiten wußten, worauf sie achten mußten, war Kommunikation möglich. Und nachdem das Rote Hirn seine Macht demonstriert hatte, würden es Haden und Shub nie wieder wagen, hier zu erscheinen.
Der Menschengeist sah sich in der Mission um, trauerte um ihre vielen Toten und kehrte in seine zahlreichen Körper zurück. Viel Arbeit war noch zu leisten.
Jetzt blieb vor allem noch, wieder aufzuräumen. Ein großer Teil der Mission mußte neu aufgebaut werden, aber diesmal würde der Dschungel helfen. Erneut mußten Leichen eingesammelt und identifiziert werden, und Sankt Bea arbeitete viele Stunden lang auf der Krankenstation und heilte die Kranken.