»Geschieht Euch recht«, sagte eine rauhe Stimme von der Tür her. »Warum müßt Ihr auch lauschen?« Johanas Kopf ruckte herum, und sie sprang erschrocken auf. Sie hatte nicht gehört, wie die Tür geöffnet worden war. Im Eingang stand Investigator Topas. Sie sah genauso hart und kompromißlos aus wie bei ihrer ersten Begegnung. Neben Topas stand eine große, entsetzlich magere Frau in blassen, pastellfarbenen Kleidern. Die Frau war genauso bleich und farblos wie ihre Kleidung. Strähniges blondes Haar umrahmte ungekämmt ein hageres, scharf geschnittenes Gesicht mit blitzenden blauen Augen. Auf den Wangen waren große vernarbte Flecken zu sehen, und ein Teil ihrer Nase fehlte, als hätte ein Tier ihn weg-gefressen. Die Frau wirkte spröde und schien in einem fast übernatürlichen Licht zu strahlen. Wäre sie nicht so unglaublich mager gewesen, hätte sie vielleicht sogar gefährlich ge-wirkt. Sie sah aus, als würde ein starker Windhauch ausreichen, um sie davonzuwehen.
»Es ist unhöflich, so zu starren«, sagte Topas. »Falls Ihr Euch fragen solltet: Es sind Erfrierungen. Auf der Nebelwelt wird es hin und wieder ziemlich kalt. Wenn Ihr freundlich fragt, zeigt sie Euch vielleicht auch die Stummel, wo sie einst ein paar Finger hatte. Ihr Name lautet Marie.«
Johana verstand sofort, und sie betrachtete die geisterhaften Gestalt mit neuem Respekt. »Typhus-Marie? Die Seuchenüberträgerin?«
»Diesen Namen trage ich nicht mehr«, erwiderte Marie. Ihre Stimme klang dünn und leise – es war kaum mehr als ein Murmeln –, doch Johana hatte keinerlei Schwierigkeiten, ihre Worte zu verstehen . In Maries Tonfall und in ihrem Blick lag eine überwältigende Macht. »Die Typhus-Marie war eine andere Person. Jemand, den das Imperium erschaffen hat, um die Dreckarbeit zu erledigen. Das bin ich nicht mehr. Ich bin einfach nur Marie.«
Johana nickte. »Ich weiß, wozu die Imperialen Hirntechs imstande sind. Sie haben ihre Drecksfinger auch in mein Gehirn gesteckt. Trotzdem, wenn man bedenkt, welchen Schaden Ihr der Nebelwelt zugefügt habt… Ich bin überrascht, daß man Euch frei herumlaufen läßt. Zur Hölle, ich bin tatsächlich überrascht, daß Ihr überhaupt noch am Leben seid, Marie!«
»Fräulein Taktlos«, entgegnete Investigator Topas, »wir auf der Nebelwelt geben den Menschen keine Schuld an dem, was das Imperium ihnen angetan hat. Die meisten der Menschen hier haben irgendwann mal etwas für das Imperium getan, wo-für sie sich schämen. Der Rat hat Marie in meine Obhut gegeben. Wir arbeiten jetzt als Team zusammen. Marie und ich, wir haben eine Menge gemeinsam. Meistens Dinge, die wir dank der Eisernen Hexe und ihrer verdammten Intrigen verloren haben. Aber genug der leeren Worte. Ihr wolltet mit der Vereinigung der Esper sprechen, doch unsere führenden Kräfte sind zur Zeit sehr beschäftigt. Ihr könnt mit uns reden. Wir werden Eure Botschaft weiterleiten, falls erforderlich. Bis dahin werdet Ihr sicherlich einen guten Eindruck hinterlassen wollen, oder?
Laßt die Blumen in Frieden und respektiert die mentalen Abschirmungen in diesem Haus, ja? Sie dienen genauso Eurem Schutz wie dem anderer. Viele Leute haben bei uns Schutz und Hilfe gesucht wegen der schrecklichen Dinge, die das Imperium mit ihnen angestellt hat. Einige von ihnen sind noch immer konditioniert, und viele trauern nach wie vor um die geliebten Wesen, die sie während der Esperseuche verloren haben. Respektiert ihre Privatsphäre.«
Johana zuckte die Schultern. Sie hatte eine Mission zu erfüllen. »Sie werden mich alle hören wollen, sobald sie wissen, wer und was ich bin. Ich repräsentiere Unsere Mutter Aller Seelen, und in mir ruhen die Kräfte der Weltenmutter. Ich werde ihre Dunkelheit mit Licht erfüllen und ihren Leiden ein En-de bereiten. Und mit ihrer Hilfe werde ich schließlich das Imperium selbst zu Fall bringen, und…«
»Spart Euch die großen Worte«, unterbrach sie Topas. »Das alles haben wir schon mehr als einmal gehört . Legenden sind hier in Nebelhafen nicht einen Penny wert . Hauptsächlich deswegen, weil es hier so viele Menschen gibt, die sich verzweifelt wünschen, daran zu glauben . Es ist an Euch, uns zu beweisen , daß Ihr nicht einfach nur ein weiterer Esper seid, der an Wahnvorstellungen leidet.«
Johana ließ sich den rüden Ton gefallen – jedenfalls für den Augenblick. »Erzählt mir mehr über die Vereinigung der Esper. Wie fing es an?«
Falls Investigator Topas wegen des unvermittelten Thema-wechsels überrascht war, dann zeigte sie es zumindest nicht.
»Wie alles anfing? Am Anfang bestand die Aufgabe der Vereinigung darin, alle Esper zusammenzurufen, wenn wir rasch den psionischen Schild um die Nebelwelt herum errichten mußten.
Aus diesen Anfängen erwuchs schließlich eine Art Selbsthilfe-gruppe, bevor wir dann zu einer politischen Macht, die ihre eigenen Interessen durchzusetzen vermochte, wurden. Nebelhafen ist kein Ort für die Schwachen. Auf den Straßen laufen Typen herum, die einen bei lebendigem Leib fressen, sobald sie Furcht riechen. Und manchmal locken Versuchungen, denen nur die wenigsten von uns alleine widerstehen könnten.
Heutzutage ist die Espervereinigung zu einer politischen und wirtschaftlichen Macht geworden, deren Einfluß sich über die gesamte Stadt erstreckt. Und diejenigen unter uns, die die Verantwortung tragen, sind keinesfalls begierig darauf, ihre be-trächtliche Macht von einem halb verrückten ehemaligen Insassen der Wurmwächterhölle unterminieren zu lassen, der von sich behauptet, Avatar der Weltenmutter zu sein. Einige von uns glauben nicht einmal daran, daß eine Weltenmutter überhaupt existiert oder jemals existiert hat. Und andere haben einfach nur ein persönliches Interesse daran, ihre Existenz zu verleugnen. Das sind die Gründe, weswegen Ihr mit uns sprecht und nicht mit den Anführern unserer Vereinigung . Und zudem erweckt Euer Name auch nicht gerade Vertrauen in Eure Fähigkeiten. So, und jetzt könnt Ihr meinetwegen mit Eurer Vorstellung anfangen. Ich muß wohl nicht erst erwähnen, daß Ihr gut daran tätet, überzeugend zu wirken.«
Johana grinste Topas und Marie unvermittelt an, und die beiden erschauerten unwillkürlich . Plötzlich war etwas in diesem Zimmer: eine Präsenz und eine Macht, wie sie noch vor wenigen Augenblicken nicht zu spüren gewesen war. Johana Wahn ergab sich in ihre Bestimmung, ließ all ihre Abschirmungen fallen und erstrahlte so hell wie Sonnenfeuer in einem Kristall-glas. Ihre Präsenz wurde überwältigend, erfüllte den Raum und dröhnte in der Luft wie der Herzschlag eines Riesen. Topas und Marie wichen zurück, und die Hand des Investigators fiel automatisch auf den Griff der Klinge an ihrer Hüfte. Johanas ESP peitschte in die Bewußtseine von Topas und Marie und riß ihre Abwehr mit beiläufiger Leichtigkeit ein. Nackt standen die beiden vor ihr, ohne jeden Schutz. Johana hätte alles mit ihnen machen können; sie hätten ihr alles geglaubt und alles gesagt, was sie wollte, und beide wußten sie es. Doch statt dessen öffnete sie ihnen ihr eigenes Bewußtsein, zeigte ihnen ihr eigenes Leid während der Zeit in der Hölle des Wurmwächters, alles innerhalb eines einzigen Augenblicks komprimierter lebendig gewordener Hölle.
Sie waren dabei, als der Wurm sich in Johanas Gehirn fraß.
Sie waren dabei, als er die Kontrolle über jede ihrer Regungen und jeden Gedanken übernahm. Sie waren dabei, als sie zusammengerollt und nackt auf dem Boden ihrer Zelle lag. Sie erlebten, wie Johana zitterte und bebte, umgeben vom Gestank des eigenen Urins und Kots und Erbrochenen. Ihre Zelle war nur wenig größer als ein Sarg, mit glatten stählernen Wänden und einer Decke, die zu niedrig war, um mehr als nur zu knien oder zu kriechen. Kaum jemals fiel ein Lichtstrahl hinein, und es gab nichts als beinahe endlose Dunkelheit und den Wurm, der sich in Johanas Bewußtsein eingenistet hatte und sie mit den endlosen Alpträumen der projizierten Halluzinationen und Wahnvorstellungen des Wurmwächters überschüttete. Sie verlor ihre Stimme in Silo Neun, während sie um eine Hilfe schrie, die niemals kam, oder während sie einfach nur darum flehte, daß der Schmerz und das Entsetzen und das Leiden endlich aufhören mochten.