»Mit der Hilfe deiner Freunde«, sagte Owen leichthin.
Zum ersten Mal sah Giles seinen fernen Nachfahren an. In seinem markanten, von tiefen Linien durchzogenen Gesicht regte sich kein Muskel. »Selbstverständlich, Verwandter. Alleine wäre ich niemals so weit gekommen. Erst du und deine Freunde haben all das möglich gemacht. Das werde ich euch niemals vergessen. Aber jetzt wird es Zeit für eine Konferenz, denke ich. Bevor die Schlacht beginnt und wir uns in alle Richtungen verstreuen. Vielleicht dauert es eine ganze Weile, bis wir uns wieder miteinander unterhalten können.«
»Worüber sollten wir uns denn unterhalten?« fragte Ruby.
Sie war damit beschäftigt, ihre Fingernägel mit einem gefährlich aussehenden Dolch zu maniküren. »Wir landen auf der Oberfläche, bringen alles um, was eine Uniform anhat, schnappen uns soviel Beute, wie wir tragen können, und dann veran-stalten wir ein Wettrennen, wer als erster die Löwenstein umbringt. Genau die Art von Party, die mir liegt.«
»Trotzdem gibt es ein paar Dinge, über die wir miteinander reden müssen«, beharrte Giles starrköpfig. »Das Labyrinth des Wahnsinns hat uns verändert, aber ganz offensichtlich auf verschiedene Art und Weise. Nach den Berichten zu urteilen, die ich seit Eurer Rückkehr gelesen habe – ich warte übrigens noch immer auf Euren, Ruby –, scheint es ganz so, als hätten sich unsere Fähigkeiten in… unterschiedliche Richtungen entwik-kelt. Ich habe gelernt zu teleportieren. Owen besitzt psychokinetische Fähigkeiten . Jakob und Ruby haben pyrokinetische Begabungen entwickelt , und Hazel kann alternative Versionen von sich selbst aus verschiedenen Zeitlinien heraufbeschwören.
Ich verstehe nicht einmal ansatzweise, wie das funktioniert.
Und nichts von alledem hätte ich erwartet.«
»Warum hätten wir uns denn nicht unterschiedlich entwik-keln sollen?« erkundigte sich Jakob Ohnesorg. »Wir sind doch schließlich verschiedene Persönlichkeiten. Und außerdem – was wissen wir schon über das Labyrinth? Daß es höchstwahrscheinlich ein Artefakt von einer fremden Rasse war, daß niemand sagen kann, wie alt es war oder welchen Zweck es ursprünglich hatte, und daß die letzten Menschen , die vor uns hindurchgegangen sind, die Hadenmänner erschufen. Das ist nicht gerade viel, oder?«
»Es sei denn, du weißt mehr über das Labyrinth des Wahnsinns, als du bisher zugegeben hast«, sagte Hazel. »Was ist damit, Giles? Was hast du uns die ganze Zeit über verschwiegen?«
»Selbstverständlich nichts«, antwortete Giles. »Ich habe es kurze Zeit studiert, bevor ich nach Shandrakor flüchten mußte, aber ich habe seinen Sinn nie verstanden. Ich bin nicht einmal sicher, ob der menschliche Verstand überhaupt dazu in der Lage ist. Ich glaube nicht, daß wir es jemals wissen werden. Was zählt ist einzig und allein, daß wir alle wunderbar reich be-schenkt worden sind. Jetzt liegt es an uns, diese Geschenke zu verstehen. Und im Gegensatz zu dem, was Ruby Reise zu glauben scheint, werden die Kämpfe unten auf der Oberfläche weder einfach, noch geradeheraus sein. Die Löwenstein hat eine ganze Armee von Leibwächtern und Sicherheitsleuten; sie hat das Militär, und sie wird sicherlich noch einige häßliche Überraschungen für uns bereithalten. Man sollte niemals die Paranoia der Herrschenden unterschätzen. Die Löwenstein wußte immer, daß ein Tag wie dieser hier kommen könnte, und sie hat sicher Pläne für diesen Fall geschmiedet, die uns ziemlich frustrieren werden.«
»Verdammt«, fluchte Hazel. »Dein Vorfahr hält noch längere Ansprachen als du, Owen! Muß wohl in der Familie liegen.«
»Wo liegt der Sinn dieser ganzen Unterhaltung?« fragte Ohnesorg. »Ich für meinen Teil würde lieber runtergehen und mitmischen, bevor alles vorbei ist.«
»Der Sinn ist der, daß wir uns aufteilen müssen«, erklärte Giles. »Wir müssen unsere Talente so weit zerstreuen wie möglich und die Löwenstein an allen Fronten gleichzeitig treffen .«
»Augenblick mal«, unterbrach Owen. »Wir waren immer dann am stärksten, wenn wir alle zusammen waren. Erinnert ihr euch noch an den Energieschirm, den wir auf der Wolflingswelt errichtet haben? Er war stark genug, um einer Disruptorkanone auf kürzeste Distanz zu widerstehen. Und auf der Nebelwelt haben Hazel und ich wahre Wunder vollbracht, weil wir zusammen waren. Wer weiß, wozu wir imstande sind, wenn wir alle zusammenbleiben?«
»Uns bleibt aber keine Zeit für Experimente«, entgegnete Giles tonlos. »Die Rebellion braucht uns, und sie braucht uns jet z t. Ich habe verdammt lange darüber nachgedacht.«
»Ohne mit uns zu reden«, sagte Ruby.
»Genau«, stimmte ihr Ohnesorg zu. »Wann habt Ihr all diese Pläne geschmiedet? Wir anderen hatten auf unseren verschiedenen Missionen bis zum Umfallen zu tun.«
»Ich brauche nicht viel Schlaf«, erwiderte Giles. »Und jetzt hört bitte alle her. Wir werden uns in die folgenden Gruppen aufteilen…«
»Das gefällt mir überhaupt nicht«, unterbrach ihn Hazel.
»Beim letzten Mal haben wir zugelassen, daß die Führer des Untergrunds uns aufteilten. David und der Sommer-Eiland sind auf eigenen Faust davongezogen. Und jetzt ist David tot, und der Sommer-Eiland hat sich dem Feind angeschlossen.«
»Ich vermisse David«, sagte Owen unvermittelt. »Ich habe ihn niemals richtig kennengelernt, und jetzt ist es zu spät dazu.
Aber ich vermisse ihn. Ich bin der letzte meines Geschlechts.
Der letzte der Todtsteltzer.«
»Das ist es nicht, was dich so wütend macht«, sagte Hazel.
»Du bist ärgerlich, weil du nicht mehr nach Hause zurückkehren kannst, seit Virimonde zerstört wurde. Du kannst niemals wieder in dein altes Leben zurück, und das ist alles, was du dir von dieser Rebellion je erhofft hast. Oder vielleicht nicht?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Owen. »Vielleicht. Ich wollte nie ein Krieger werden. Ich war glücklich als Gelehrter und Historiker, ohne Zwänge und ohne Verantwortung. Aber ich würde nicht mehr zurückkehren, auch dann nicht, wenn ich könnte. Ich habe zuviel gesehen. Und was David angeht… er war lästig wie ein Stein im Schuh, aber er hatte Talent. Ich hät-te ihn so viel lehren können… und jetzt ist er tot. Ermordet von Kit Sommer-Eiland. Vom gleichen grinsenden Bastard, der auch schon meinen Vater ermordet hat. Der Sommer Eiland gehört mir, ganz gleich, was dort unten geschieht.«
»Gut«, sagte Giles Todtsteltzer anerkennend. »Endlich fängst du an, wie ein echter Todtsteltzer zu reden. Du hast dich sehr verändert, Historiker.«
»Was kann ich schon dafür, daß mir nicht immer gefällt, was aus mir geworden ist?« sagte Owen. »Manchmal glaube ich, ich bin all das geworden, was ich immer verabscheut habe. Ein Mann der Gewalt, der von Rache getrieben wird. Nichts als ein weiterer Bauer in den Intrigen meines Vaters, mit dem Ziel, die Eiserne Hexe zu stürzen . Nichts als ein weiterer Barbar an den Toren des Imperiums.«
Peinliches Schweigen breitete sich aus, das erst durch ein dringliches Signal vom Holoschirm durchbrochen wurde. Giles schaltete auf Empfang, und der Anblick Golgathas verschwand und wich den Gesichtern Finlay Feldglöcks, Evangeline Shrecks und Julian Skyes. Die drei erweckten einen gehetzten Eindruck.