»Was hält Euch noch auf?« fragte Finlay , ohne sich mit Höf-lichkeitsfloskeln abzugeben. »Wir brauchen Euch hier unten , und zwar jetzt. Es steht gar nicht gut in der Hauptstadt, und das ist schließlich der Ort, auf die es im Grunde genommen an-kommt! Wir wissen nicht mehr, wer gewinnt und wer verliert, falls überhaupt jemand. Das reinste Chaos. Allein Eure Gegenwart wird unsere Kämpfer ermutigen. Ihr seid allesamt zu Helden geworden, zu lebenden Legenden, und das nicht zuletzt durch Tobias Shrecks Berichterstattung. Die Leute werden Euch folgen, wohin sie keinem von uns folgen würden.«
»Berichtet mehr über die Lage«, verlangte Giles. Er ließ sich nicht so leicht unter Druck setzen. »Wer hat im Augenblick die Oberhand?«
»Das hängt davon ab, mit wem Ihr redet«, antwortete Evangeline. »Der gesamte Regierungsapparat löst sich mit rasender Geschwindigkeit auf, und wir unternehmen alles in unserer Macht Stehende, um daraus einen Vorteil zu ziehen. Andererseits herrscht schon seit sehr langer Zeit ein sorgfältig ausba-lanciertes Gleichgewicht, und es hatte tatsächlich nur einen Funken gebraucht, um die Leute rebellieren zu lassen. Hätten wir früher gewußt, daß wir so kurz vor der offenen Rebellion gestanden haben, hätten wir selbst den Funken geliefert. Aber in den Straßen laufen immer noch verdammt viele Sicherheitsleute und Truppen herum, und sie sind ein gewaltiges Stück besser bewaffnet als unsere eigenen Leute. Deswegen brauchen wir Euch. Eure Fähigkeiten könnten die Wende einleiten. Gott allein weiß, daß wir eine brauchen. Wir kämpfen an so vielen Fronten, daß wir nicht imstande sind, einen echten Durchbruch zu erzielen.«
»Was ist mit den Hadenmännern?« mischte sich Owen in die Unterhaltung ein. »Ich mache mir ihretwegen Sorgen. Ich habe sie aus ihrem Schlaf geweckt, weil wir ihre Hilfe benötigten; aber sie waren immerhin die Offiziellen Feinde der Menschheit, bevor Shub den Titel errang. Benehmen sie sich denn?«
»Überraschenderweise ja«, sagte Julian Skye. »Ihre Schiffe greifen lediglich die Ziele an, die wir ihnen nennen, und ihre Bodentruppen sind ein wahrer Segen! Sie geben großartige Stoßtruppen ab. Die Hälfte der Zeit rennt die Armee lieber vor ihnen davon, anstatt sich zu stellen! Nicht, daß ich ihr daraus einen Vorwurf machen könnte. Aber alles in allem verhalten sich die aufgerüsteten Männer von Haden tadellos. Uns liegen sogar Berichte vor, daß sie Gefangene gemacht haben, anstatt alles zu töten, was sich bewegt. Das hat alle ziemlich überrascht. Am meisten natürlich die Gefangenen selbst. Vielleicht haben die Hadenmänner in ihrer Gruft ja endlich ihren Gott gefunden. Jedenfalls war das eine Eurer besseren Ideen, Owen Todtsteltzer.«
»Genau«, sagte Evangeline. »Und wenn Ihr jetzt zufrieden seid, können wir uns vielleicht wieder wichtigeren Dingen zuwenden? Womit ich das heillose Durcheinander in der Hauptstadt meine…«
»Schafft Eure kollektiven Hintern hier herunter«, sagte Finlay scharf. »Sofort. Wir dürfen die Stadt nicht verlieren!«
»Verstanden«, sagte Owen. »Wir sind gleich da. Schließlich sind wir nicht den ganzen weiten Weg gekommen, um das Fi-nale zu verpassen.«
Finlay nickte und schaltete ab. Das Bild ihrer besorgten Gesichter war kaum verblaßt, als ein anderes Signal hereinkam.
Alles in der Großen Halle richtete sich unwillkürlich auf, als ein neues Gesicht den Schirm ausfüllte. Zahlreiche Hände griffen instinktiv nach den Waffen. Der breite, zottelige Wolfs-kopf, der auf sie heruntersah, wurde von einer langen Schnauze voller messerscharfer Zähne und zwei dunklen, glänzenden Augen beherrscht, großen, intelligenten Augen von einer beinahe überwältigenden Wildheit. Es war der Wolfling, der letzte seiner Rasse und einziger Überlebender des ersten Experiments des Imperiums, eine überlegene Rasse von Kriegern zu erschaffen . Der letzte einer Rasse, die von einer ängstlichen Menschheit abgeschlachtet und ausgemerzt worden war . Einstiger Bewacher des Labyrinths des Wahnsinns, und jetzt Pro-tektor des schlafenden Dunkelzonen-Projektors. Giles grinste das vertraute Gesicht breit an.
»Wolf! Ich warte schon die ganze Zeit auf deinen Anruf!
Wann wirst du bei uns sein?«
»Ich werde nicht kommen«, erwiderte der Wolfling. Seine dunkle, tiefe Stimme klang wie ein Knurren; doch eine tiefe Traurigkeit und Erschöpfung darin nahm ihr viel von ihrem Schrecken. »Ich hab’s dir doch schon gesagt, Giles. Ich habe genug vom Kämpfen. Ich habe zuviel Tod und Zerstörung gesehen, um noch Freude daran zu empfinden. Die Löwenstein muß gestürzt werden, das weiß ich selbst. Aber sie wird fallen, ob ich nun dabei bin oder nicht. Du brauchst mich nicht mehr, Giles. Du bist inzwischen weit mächtiger als ich.«
»Aber… wir haben soviel Zeit mit Pläneschmieden und Diskussionen verbracht, wie wir die Eiserne Hexe stürzen können!
Tu mir das nicht an, Wolf! Laß mich nicht allein! Du bist mein ältester Freund und alles, was mir noch von den alten Tagen geblieben ist.«
»Darin haben wir uns schon immer unterschieden, Giles. Du willst dich an die Vergangenheit erinnern, und ich will sie vergessen. Laß ab von deinem Haß, Giles! Ich weiß alles über dieses Gefühl. Gib ihm zuviel Macht über dich, und es frißt dich auf, bis nichts mehr in dir ist außer Haß. Das ist keine Art zu leben. Tu, was du tun mußt, weil es das Richtige ist, und nicht, weil es dir Spaß macht. Ich bin müde, Giles . Ich lebe schon viel zu lange. Ich habe gesehen, wie sich das Imperium in etwas verwandelt hat, das ich nicht mehr wiedererkenne, und ich habe gesehen, wie meine Rasse ausgelöscht und zur Legende geworden ist. Ich glaube, es wird Zeit für mich, endlich loszulassen und ihr zu folgen.«
»Kann ich denn gar nichts für dich tun?« fragte Giles beinahe flehentlich.
»Doch«, erwiderte der Wolfling. »Du kannst die Löwenstein für mich töten. Was auch immer geschieht , ihr dürft sie auf gar keinen Fall entkommen lassen. Töte sie, Giles.«
»Ja«, sagte Giles. »Das kann ich für dich tun.«
Der Wolfling nickte mit seinem mächtigen zotteligen Kopf, und der Schirm wurde dunkel. Giles starrte sekundenlang auf die leere Fläche, und schließlich nickte er zögernd, als lausche er einer inneren Stimme, die nur er allein hören konnte. Er drehte sich zu den anderen um, und sein Gesicht war vollkommen gelassen und gefaßt, als erwartete er Kommentare der anderen wegen der Emotionen, die er gezeigt hatte. Als er dann redete, klang seine Stimme steif und formell.
»Die Fremdwesen«, sagte er. »Wir haben bisher noch kein Wort über die Fremdwesen verloren. Seit dem Angriff auf Golgatha wurde keines ihrer Schiffe mehr im Imperium gesich-tet; aber wir dürfen uns nicht erlauben , sie zu vergessen. Sie sind irgendwo dort draußen, und sie beobachten uns ohne Zweifel und schmieden ihre Pläne. Es ist lebenswichtig, daß wir die Rebellion so rasch wie möglich beenden, damit wieder Ordnung einkehrt. Wir dürfen uns nicht von einer angreifenden Streitmacht der Fremden überraschen lassen, während wir uneins und geschwächt sind.«
»Nicht zu vergessen Shub«, sagte Owen. »Vielleicht kommen die KIs auf die Idee, ihren Vorteil aus unserem Streit zu ziehen und starten einen eigenen Angriff, solange wir schwach sind.«
»Mein Gott, ihr seid vielleicht ein optimistischer Haufen!« sagte Ruby Reise. »Paßt auf, wir machen, daß wir nach unten kommen und die Schau über die Bühne bringen. Über Fremdwesen und KIs und Froschplagen können wir uns Gedanken machen, wenn sie auftauchen.«
»Genau«, stimmte Hazel ihrer Freundin zu. »Wir verschwenden hier nur unsere Zeit.«
»Eine gute Planung ist niemals Zeitverschwendung«, entgegnete Giles kalt. »Und jetzt paßt auf. Wir machen es folgender-maßen: Owen hat einige Nachforschungen angestellt und alte Aufzeichnungen des Imperialen Palasts studiert, aus der Zeit, als er gebaut wurde. Ich wußte immer, daß seine Erfahrungen als Historiker eines Tages gelegen kommen würden. Heutzutage gibt es nur noch einen Weg in den Palast, und das ist ein unterirdischer Zug, der von den Sicherheitssystemen des Palasts gesteuert und überwacht wird. Die Haltestellen sind streng bewacht, und die Waggons selbst sind mit tödlichen Gasdu-schen ausgerüstet – nur für den Fall. Allerdings hat Owen eine ganze Reihe alter Wartungstunnel entdeckt, die seit langem nicht mehr genutzt werden und die anscheinend in Vergessenheit geraten sind. Wir können die Tunnel benutzen und die Wachen umgehen. Auf diese Weise kommen wir unbemerkt in die Züge. Diese Aufgabe werden Owen, Hazel und ich übernehmen.«