Er war noch immer nicht ganz sicher, was er unternehmen würde, wenn es ihnen schließlich gelungen war, einen Weg in den Imperialen Hof zu finden und sie vor ihrer Imperatorin auf dem Eisernen Thron standen. Sein ganzes Leben lang war er dazu erzogen worden, den Eisernen Thron zu achten und zu ehren, ganz gleich, wer darauf saß. Er hatte geschworen, dem Thron sein ganzes Leben lang zu dienen und ihn notfalls auch mit dem Leben zu verteidigen. Der Eiserne Thron war der Ur-sprung aller Pflicht und aller Ehre und noch vieler andere Dinge, die sich nicht so leicht in Worte fassen ließen. Den Thron zu stürzen war, als würde man Gott selbst stürzen. Owen Todtsteltzer war ein Aristokrat, und daran hatte auch seine Ächtung nichts geändert. Vermutlich würde er sein ganzes Leben Aristokrat bleiben, jedenfalls in vielerlei Hinsicht. Doch Owen hatte zuviel Dunkelheit gesehen. Er hatte die Schattenseiten des Imperiums kennengelernt. Er hatte gesehen, auf wieviel Leid und Elend die Gesellschaft der Reichen und Privilegierten basierte, und er konnte den Blick nicht einfach wieder abwenden und so tun, als wäre nichts geschehen. Pflichtgefühl und Ehre und reine Menschlichkeit verlangten von ihm, daß er dem Imperium Einhalt gebot.
Und so war er zu einem der Anführer der Rebellion geworden, ein Held und Vorbild für andere, und der Sinn seines Leben bestand nun darin, all jene zu rächen, die das Imperium aus Habsucht oder Willkür zerbrochen oder ausgestoßen hatte. Er kämpfte jetzt für die Armen und die Geknechteten, für die Esper und die Klone und andere Unpersonen, für jeden, dessen Leben durch eine Imperatorin zerstört worden war, deren Pflicht es eigentlich gewesen wäre, ihre Untertanen zu schützen. Und wenn er sich manchmal dabei wie ein Betrüger vor-kam oder wie jemand, der nicht würdig war, Teil des Kampfes zu sein, so tröstete er sich mit dem Gedanken, daß außer ihm niemand sonst vollbringen konnte, was er tat. Das Labyrinth des Wahnsinns hatte ihm Kräfte geschenkt, die weit über die eines gewöhnlichen Menschen hinausgingen, und so behielt er sein Menschsein nun dadurch, daß er diese Kräfte in den Dienst der gesamten Menschheit stellte.
Und all das nur, weil die Löwenstein ihn verstoßen und sein behagliches, komfortables Leben zerstört hatte, zusammen mit allem, was Owen je lieb und teuer gewesen war. Immer wieder versuchte er sich einzureden, daß nicht Rache ihn vorantrieb, und daß sein Schicksal ihm Einsicht in die Gefühle unzähliger Menschen vermittelt hatte, deren Leben von der Imperatorin und der herrschenden Klasse zerstört worden waren. Aber Owen war zu ehrlich zum Lügen, sogar gegen sich selbst. Er wollte, daß sie genauso litt, wie er gelitten hatte, indem er ihr das wegnahm, was sie am meisten schätzte.
Aber am Ende zählte nichts von alledem. Kein einziger dieser Gründe hatte ihn hierhergeführt, und keiner dieser Gründe war es, der ihn in der Dunkelheit durch unterirdische Gänge stolpern ließ, um ein Imperium zu stürzen. Owen kämpfte für ein Kind, das hilflos weinend im blutbesudelten Schnee einer dunklen Gasse von Nebelhafen lag, nachdem er es ohne nachzudenken niedergestochen hatte. Sie war eine Blutsüchtige gewesen und hatte zu einer Straßenbande gehört, und sie hatte versucht, ihn zu töten; aber auch das spielte keine Rolle. Was zählte war, daß kein Mensch im gesamten Imperium zu einem Leben wie dem ihren verdammt sein oder wie sie sterben sollte. Nur eine weitere verlorene Seele, für die Löwenstein die Verantwortung trug. Ihre Schreie verfolgten ihn, und ihr Blut würde bis ans Ende seiner Tage an seinen Händen kleben. Er würde ein Imperium für sie stürzen, würde eine ganze Zivilisation umkrempeln und alles vernichten, woran er jemals geglaubt hatte, und er wußte, daß selbst das nicht ausreichen würde, seine Schuldgefühle zu mindern.
Der Tunnel führte sie schließlich zu einer versiegelten Luke.
Owen und Giles stemmten sich mit den Schultern dagegen und nahmen alle Kräfte zusammen, die das Labyrinth des Wahnsinns ihnen verliehen hatte, und die massive Stahltür öffnete sich unter lautem Quietschen. Der Gang dahinter lag in strahlender Helligkeit, und sie mußten einen Augenblick lang die Augen schließen, bis sie sich an das Licht gewöhnt hatten.
Owen schaltete seine Lampe aus und schob den Kopf durch die Öffnung. Er spähte mißtrauisch in die Runde, dann gab er den anderen ein Zeichen, daß alles in Ordnung sei. Nacheinander sprangen sie durch die Luke auf den darunterliegenden Bahnsteig.
Der Bahnhof war eine relativ große, weitläufige, vollständig mit Kacheln ausgekleidete Höhle. An der Decke hingen starke Scheinwerfer und beleuchteten einen einzelnen Zug, der an der Bahnsteigkante wartete. Alles war makellos sauber. Der Zug war groß genug und bestand aus poliertem Stahl, ohne Fenster, aber mit einer einladend offenstehenden Schiebetür. Der Bahnsteig war vollkommen menschenleer. Nirgends waren Wachen zu sehen. Sicherheitskameras an der Decke waren alles. Hazel blickte zu der hohen Decke hinauf, dann auf die reich verzier-ten Wände und schließlich auf das luxuriöse Interieur des Zuges, und sie mußte sich anstrengen, um nicht zu zeigen, wie sehr sie beeindruckt war.
»Sehr hübsch«, sagte sie schließlich. »Allerdings auf eine etwas übertriebene Art und Weise.«
»So sind die Aristokraten nun einmal«, erwiderte Owen. »Sie geben sich nicht mit weniger als Perfektion zufrieden, selbst wenn man keine Augen für die Umgebung hat. Wer in diesem Zug sitzt, ist normalerweise mit seinen Gedanken ganz bei den häßlichen Überraschungen, mit welchen die Löwenstein bei Hof aufzuwarten pflegt. Manchmal ist der Hof noch gefährlicher als die Löwenstein selbst, und das will schon einiges heißen. Gott allein weiß, wie es inzwischen dort aussieht. Vor allem, wenn ich bedenke, in welcher Stimmung sie sich befinden muß. Doch es macht keinen Sinn, hier herumzuhängen.
Komm, Mylady Hazel, deine Kutsche wartet.«
»Ich bin nicht deine Lady, Todtsteltzer!« fauchte Hazel und trat mißtrauisch durch die offene Tür in den wartenden Waggon.
»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Owen galant.
Nachdem sie alle eingestiegen waren, setzte Giles sich auf den erstbesten Sitz und legte die Füße hoch. Hazel marschierte geradewegs auf die eingebaute Bar zu, und Owen untersuchte das Kodepaneel neben der Tür. Die Zahlen verrieten, wo genau man sich gerade befand, mit wie vielen anderen man unterwegs war und welchen gesellschaftlichen Status man innehatte. Ohne korrekte Kodes würde der Zug sich erst gar nicht in Bewegung setzen. Ein ganz falscher Kode würde die Sicherheitssysteme aktivieren, und Gas würde in die Waggons strömen, und danach würde man nirgends mehr hinfahren, außer zum Friedhof.
Ozymandius hatte behauptet, nicht nur Kodes zu besitzen, die sie sicher zur nächsten Station bringen würden, sondern die auch noch die Sicherheitssysteme abschalten konnten, so daß die Gasdüsen auch von außen nicht mehr aktiviert werden konnten. Owen war gar nicht mehr so überzeugt davon, wie er es noch kurze Zeit zuvor gewesen war.
»Vertrau mir«, flüsterte Ozymandius leise in Owens Ohr.
»Die Nachforschungen deines Vaters waren sehr gründlich.
Die Kodes sind korrekt. Tipp einfach die Nummern ein, so wie ich sie dir gebe.«
Owen knurrte etwas Unverständliches vor sich hin und tat, was Ozymandius von ihm verlangte. Er tippte die letzte Nummer ein und machte sich innerlich auf das Zischen der Gasdüsen gefaßt. Er war bereit, Hazel beim leisesten Geräusch zu packen und mit ihr den Waggon zu verlassen, und wenn er da-für ein Loch durch die solide Stahlwand hätte schlagen müssen.
Aber nichts geschah, oder wenigstens nichts Unangenehmes.
Die Tür glitt zu; die Motoren in ihren abgeschlossenen Gehäusen sprangen an, und der Zug setzte sich sanft in Bewegung.
Owen blickte sich um. Er hatte das Gefühl, daß er vielleicht sonst noch etwas hin sollte, doch dann zuckte er die Schultern und setzte sich neben Giles. Der ursprüngliche Todtsteltzer hatte sich in seinem luxuriös gepolsterten Sitz zurückgelehnt, die Augen geschlossen und die Beine vor sich gekreuzt: Der Inbegriff der Entspannung. Owen saß auf der Kante seines Sitzes und biß sich auf die Unterlippe hören. Zugreisen machte ihn krank.