»Was glaubst du, was er dir noch sagen wollte?« murmelte Hazel.
» Geh zur Hölle oder etwas in der Art wahrscheinlich«, erwiderte Owen. »Er war schon immer ziemlich stur für einen Mann mit einem halben Gehirn .«
Giles schlug Owen auf die Schulter, daß der junge Todtsteltzer unwillkürlich zusammenzuckte. »Gut gemacht, Verwandter. Für einen Historiker hast du dich verdammt gut geschlagen.«
»Ein wenig Hilfe wäre nicht ungelegen gekommen«, entgegnete Owen vorwurfsvoll. »Warum habt ihr beiden nicht eingegriffen?«
»Oh, das wäre unsportlich gewesen«, sagte Giles. »Und das konnte ich nicht zulassen.«
»Vergiß den Sport«, brummte Owen. »Das hier ist Krieg.«
»Und Krieg ist der großartigste Sport von allen«, konterte Giles . »Du bist der Historiker in der Familie. Du müßtest es eigentlich wissen.«
»Sport ist es nur für die Sieger«, sagte Owen. »Nicht für die Verlierer, die Opfer, die Waisen und Witwen und die armen Bastarde, die gegen ihren Willen hineingezogen worden sind.«
»Äh, Leute«, mischte sich Hazel unvermittelt ein, »ich glaube, wir haben da ein kleines Problem…«
Sie drehten sich um und folgten ihrer ausgestreckten Hand.
Die abgetrennte Energiehälfte stand noch immer da, wo Owen den Halben Mann geteilt hatte, aber ihre Umrisse waren in Bewegung geraten. Die glänzende Energiegestalt pulsierte und verschwamm und stieß an die Grenzen ihrer Form. Sie wurde zu etwas anderem, Differenzierterem, nun, da sie nicht mehr länger an ihre menschliche Form gebunden war oder von ihr beherrscht wurde. Die sich langsam ändernde Gestalt wurde von Minute zu Minute beunruhigender und fremdartiger, bis Owen gegen den Drang ankämpfen mußte, den Blick abzuwenden. Die Gestalt wurde zu einem Fremdwesen und noch mehr. Sie besaß Breite und Höhe und Tiefe und andere Dimensionen, die Owen mehr spürte, als daß er sie gesehen hätte. Die Erfahrung bereitete ihm Kopfschmerzen.
Hazel feuerte mit ihrem Disruptor auf das Gebilde, und der Strahl prallte ab, ohne Schaden anzurichten. Das Energiewesen strahlte blendend hell, wie ein Loch in der Wirklichkeit, durch das irgendein unheilvoller Gott sein durchdringendes Licht sandte. Und dann war sie von einem Augenblick auf den anderen verschwunden, und die Erinnerung verblaßte auf Owens Netzhaut wie ein Alptraum, aus dem man endlich erwachte.
Owen stieß dankbar die Luft aus. Er bemerkte, daß Hazel seinen Arm so fest umklammerte, daß es schmerzte. Hastig ließ sie ihn wieder los, und Augenblicke später hatte sie wieder ihre unnahbare Haltung zurückgewonnen.
»Das war mal etwas anderes«, sagte sie ein wenig kurzatmig .
»Hat irgendeiner von euch eine Idee, was zur Hölle wir gerade gesehen haben?«
»Ein Problem aus der Zukunft«, sagte Owen. »Weil ich nämlich das dumpfe Gefühl habe, daß es eines Tages wiederkommen wird, zusammen mit den Fremdwesen, die es geschaffen haben. Möglicherweise haben wir nur eine Gefahr gegen eine andere ausgetauscht.«
»Sollen sie nur kommen«, knurrte Giles. »Sollen sie nur alle kommen. Sie werden kein Gegner sein für das Imperium, das wir bis dahin geschaffen haben. Und jetzt laßt uns gehen. Wir wollen die Imperatorin schließlich nicht warten lassen.«
Er stapfte los, und Owen und Hazel schlossen sich ihm an.
Hazel wechselte einen Blick mit Owen.
»Ich hasse es, wenn er nur so vor Selbstvertrauen zusprühen scheint«, sagte sie. »Er beschwört den Ärger geradezu herauf.«
»Ich könnte es nicht besser formulieren«, stimmte Owen zu.
»Aber wenigstens müssen wir uns nicht dauernd fragen, was er gerade macht, solange er vor uns geht.«
»Und wenn das Schießen erst anfängt, können wir hinter ihm in Deckung gehen«, meinte Hazel. »Breit genug ist er ja.«
»Ich kann jedes Wort hören«, sagte Giles vor ihnen. »Und bildet euch ja nicht ein, daß ich euch witzig finde.«
»Selbst schuld«, erwiderte Hazel. »Das hast du davon, wenn du lauschst. Geh ruhig ein wenig schneller, oder ich trete dir in die Hacken.«
»Ich frage mich, ob noch Zeit genug ist, um zurückzugehen und die Führer der Rebellion um andere Begleiter zu bitten«, sagte Owen mit Bedauern in der Stimme.
Sie stürzten aus der purpurnen Sonne eines frühen Morgenhimmels herab: eine ganze Armada von schnellfliegenden Antigravschlitten. Es waren Tausende, und sie verdunkelten den Himmel. Einmannflieger mit frisierten Motoren für mehr Geschwindigkeit, bis zu den Zähnen bewaffnet mit angeschweißten Disruptoren und schweren Projektilwaffen mit langen Pa-tronenketten. Sie kamen sehr tief herein, ein gutes Stück unterhalb der normalen Abtastgrenze der Sensoren. Sie flogen über die Hauptstadt und in Richtung der Familientürme, und die Clans ahnten nicht, was auf sie zukam. Sie peitschten zwischen den hohen Gebäuden der Hauptstadt hindurch, stiegen und fielen mit den Auf- oder Abwinden und waren so schnell vorbei, daß die automatischen Waffensysteme auch nicht den Hauch einer Chance hatten, ihr Ziel zu erfassen.
Tausende von Schlitten schossen über die Stadt hinweg, bemannt mit Espern und Klonen, mit Rebellen und allem und jedem, der Sehnsucht nach Gerechtigkeit im Herzen trug und den Willen, bis in die Hölle und zurück zu fliegen, um die Familien nach all der Zeit von ihren Sockeln zu stürzen.
Sie flogen über die kämpfenden Massen in den Straßen, ohne sich in die Gefechte einzumischen. Ihre Mission war eine andere. Hin und wieder wurde von unten eine Waffe auf den Schwarm abgefeuert, doch die Schlitten waren klein und schnell und schwer zu treffen.
Mächtige Imperiale Antigravbarken bemühten sich, den Angreifern den Weg abzuschneiden. Sie schwebten über dem Boden wie gewaltige Festungen; doch es gab nur wenige von ihnen, und die Schlitten rasten über und unter und rechts und links von ihnen vorbei und waren in Sekundenschnelle wieder verschwunden. Die lektronengesteuerten Feuerleitsysteme hatten kein einziges Ziel erfaßt. Zu unberechenbar war die Flugbahn der winzigen Schlitten. Niemand hatte je zuvor den Gedanken gehabt, Einmannschlitten auf diese Art einzusetzen – bis Jakob Ohnesorg gekommen war. Sie verdunkelten den Himmel und donnerten mit der Sonne im Rücken in Richtung der Türme: Eine Armee der Vergeltung auf Furienflügeln.
Jakob Ohnesorg, Ruby Reise und Alexander Sturm führten den Angriff. Sie flogen Seite an Seite und hatten die Energieschirme der Schlitten zugunsten höherer Geschwindigkeit abgeschaltet . Der Fahrtwind zerrte an ihren Gesichtern und trieb ihnen die Tränen in die Augen, und die Kühle des frühen Morgens ließ sie trotz der Heizelemente in ihren Anzügen frösteln.
Sie ignorierten die Kälte, so gut es ging, und konzentrierten sich ganz und gar auf das, was vor ihnen lag. Für Sturm und seine alten Knochen war es am schlimmsten. Er biß die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten, und hatte Mühe, nicht den Anschluß an Jakob und Ruby zu verlieren. Er wollte auf gar keinen Fall zurückbleiben.