Ein weiteres Produkt des verdammten Imperiums. Owen drehte sich um und funkelte Chance an, den Gründer und Manager des Abraxus-Informationszentrums. Chance war ein großer, muskulöser Mann, fast genauso breit wie hoch, und er steckte in schwarzer Lederkleidung mit metallenen Manschetten. Sein halbes Gesicht war von einer äußerst häßlichen und komplizierten Tätowierung überzogen, und sein Grinsen war leer. Seine Augen glänzten zu hell, und er blinzelte zu selten.
Owen fragte sich, ob Chance vielleicht schon verrückt gewesen war, bevor er Abraxus gegründet hatte, oder ob das unentwegte Sterben und Leiden der Kinder ihn hatte überschnappen lassen.
Gleich wie, Owen hielt einen Sicherheitsabstand zu ihm ein, und seine Hand schwebte ständig in der Nähe der Waffen.
Chance nickte ihm unvermittelt zu.
»Ich wußte, daß Ihr wiederkommen würdet, Owen Todtsteltzer«, sagte er. »Was kann ich diesmal für Euch tun?«
»Das wißt Ihr nicht?« entgegnete Owen. »Ihr scheint nachzu-lassen, Chance. Ich habe Fragen, die nach Antworten verlangen.«
»Ist das nicht der Grund, aus dem wir alle hier sind?« fragte Chance. »Ich denke, ich sollte Euch besser darauf hinweisen, daß Ihr, als Ihr uns das letzte Mal mit Eurem Besuch beehrt habt, Euren gesamten Kredit aufgebraucht habt. Und seither sind die Preise dramatisch gestiegen. Ihr wißt ja selbst, wie das ist: Kleine Unternehmen müssen andauernd darum kämpfen, nicht unterzugehen.«
»Euer Unternehmen existiert nur dank des Geldes meines Vaters«, entgegnete Owen tonlos. »Rein technisch gesehen gehört Abraxus mir, denn ich bin sein einziger Erbe.«
»Ihr wurdet für vogelfrei erklärt«, erwiderte Chance. »Sämtlicher Besitz der Todtsteltzers wurde durch die Imperatorin konfisziert. Außerdem sind wir hier in Nebelhafen, und hier gelten andere Gesetze. Abraxus gehört mir.«
Owen grinste freudlos. »Ich schätze, da täuscht Ihr Euch gewaltig. Ich bin hier in Nebelhafen, um das alte Spionagenetz der Todtsteltzers zu revitalisieren. Ich beabsichtige, es im Verlauf der Rebellion einzusetzen. Dieses Spionagenetz, verehrter Chance, schließt Euch und Abraxus definitiv mit ein. Und da ich – trotz all meiner Fehler, zugegeben – einer der Leute bin, die die gegenwärtige Rebellion anführen, wird Abraxus mir Rede und Antwort stehen. Wenn Ihr also Eure höchstwahrscheinlich äußerst gut bezahlte Position als Manager behalten wollt, dann empfehle ich Euch wärmstens, daß Ihr endlich damit aufhört, mir ständig dumm zu kommen. Habt Ihr mich verstanden?«
»Ohne mich könnt Ihr Abraxus nicht betreiben« entgegnete Chance. »Die Kinder sind mein Eigentum, mit Körper und Seele.«
»Sie werden sicher rasch darüber hinwegkommen. Kinder sind… unendlich anpassungsfähig, wenn Ihr versteht, was ich meine.«
Chance dachte darüber nach. »Ihr würdet tatsächlich Abraxus riskieren, nur um wieder die Kontrolle über das Netz zu erlangen?«
»Selbstverständlich«, antwortete Owen . »Schließlich bin ich ein Todtsteltzer. Wir Todtsteltzers haben eine lange Tradition, was unsere Sturheit betrifft. Zur Hölle mit den Konsequenzen.«
Chance rümpfte die Nase . »Und was wollt Ihr wissen, Todtsteltzer?«
»Das ist schon besser. Ich habe eine Frage.«
»Vielleicht könntet Ihr etwas genauer werden? Schließlich wollt Ihr ja auch eine genaue Antwort, oder? Meine Kinder sind Esper und keine Orakel.«
»Dann fragt sie, wer meinen Vater getötet hat. Ich meine, welche Person genau?«
Chance nickte und wanderte durch den Mittelgang zwischen den Bettenreihen entlang, während seine Blicke erwartungsvoll von einem Kind zum anderen glitten. Owen wartete, ohne eine Miene zu verziehen. Er verbarg seine Überraschung über die eigene Frage. Es war nicht die gewesen, mit der er eigentlich hatte anfangen wollen. Er war hier, um Informationen über das Spionagenetz seines Vaters einzuholen. Bis er sich selbst die Frage hatte stellen hören, hatte er nicht gewußt, wie sehr ihn der Name des Mörders seines Vaters interessierte. Sein Vater war auf der Straße von einem Meuchelmörder niedergestochen worden, den die Imperatorin gedungen hatte, und das hatte Owen noch nicht einmal überrascht. Er hatte einfach angenommen, daß die zahlreichen Intrigen und Verschwörungen seinen Vater endlich eingeholt hatten. Owen war hauptsächlich nur wütend über die Störung gewesen, die der Tod seines Vaters für sein zuvor wohlgeordnetes Leben bedeutet hatte. Damals hatte er nicht gefragt, wer ihn ermordet hatte. Es war ihm egal gewesen. Damals.
Arthur Hadrian Todtsteltzer, groß gewachsen, attraktiv und unglaublich charmant, hatte die größte Freude an Intrigen und Ränkeschmieden gehabt, und wenigstens ein paar davon waren purer Selbstzweck gewesen. Was wiederum bedeutete, daß er nicht viel Zeit für seinen Sohn Owen gehabt hatte.
Wenn Arthur Hadrian Todtsteltzer – wie es hin und wieder geschah – einfiel, daß er einen Sohn und Erben besaß, griff er mit eiserner Hand in dessen Leben ein und tat, was er für das Beste hielt – zur Hölle mit Owens eigenen Wünschen . Owens Erinnerung an den Vater war alles andere als gut, und ihre wenigen Unterhaltungen hatten stets in bitterem Streit geendet.
Der Todtsteltzer hatte nie verstehen wollen, daß sein Sohn sich selbst als Gelehrten betrachtete, als einen Mann des Wortes, nicht des Schwertes.
Als Owen vom Tod seines Vaters erfahren hatte, war sein erstes Gefühl Erleichterung gewesen. Endlich war er frei! Endlich stand er nicht mehr unter Bevormundung und konnte sein eigenes Leben leben.
Erst später – erst vor kurzem, um genau zu sein – hatte Owen angefangen zu verstehen, welche Motive seinen Vater angetrieben und bewegt hatten . Allein die Tatsache, daß er der Todtsteltzer gewesen war, hatte Arthur viele Feinde am Imperialen Hof und auch außerhalb verschafft. Ein Aristokrat auf Golgatha konnte Intrigen genausowenig ausweichen, wie ein Fisch das Wasser verlassen konnte. Vor allem hatte Arthur an Rebellion als Mittel zum Zweck geglaubt – ob um des Imperiums willen oder zu seinem eigenen Vorteil, das wußte Owen noch immer nicht; doch allmählich begann er die Motive seines Vaters zu verstehen. Je mehr er erkannte, mit welch schrecklichen Methoden die Löwenstein ihre Herrschaft aufrechterhiel-ten, desto mehr wurde ihm bewußt, daß er das Imperium mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen mußte.
Owen brachte es noch immer nicht fertig, seinem Vater zu vergeben oder ihn gar zu lieben – jenen Mann, der den Ausbil-dern und Lehrern seines Sohnes befohlen hatte, den Jungen windelweich zu prügeln, immer und immer wieder, in dem Versuch, das geheime Vermächtnis der Todtsteltzer hervorbre-chen zu lassen und an die Oberfläche zu zwingen: den Zorn.
Eine Mischung aus genetisch manipulierten Drüsen und spezieller Ausbildung, die einen Todtsteltzer für einen kurzen Zeitraum stärker , schneller und gerissener werden ließ als jeden normalen Menschen. Schließlich hatte es auch funktioniert, doch Owen erinnerte sich nur an den Schmerz und das Blut – und all das nur, um eine Gabe in ihm zu wecken, die er überhaupt nicht hatte haben wollen. Erst vor kurzem war Owen bewußt geworden, warum der alte Todtsteltzer so verzweifelt versucht hatte, seinen Sohn zu einem Kämpfer zu machen statt zu einem Gelehrten. Der alte Todtsteltzer hatte gewußt, daß ein Gelehrter nicht imstande sein würde, sich den Kräften zu wi-dersetzen, die sich nach seinem Tod auf seinen Sohn stürzen würden. Und er hatte verdammt recht damit gehabt.
Genauso, wie Owen zu einem der Führer der neuen Rebellion und damit zu einem Kämpfer für die Gerechtigkeit geworden war, so war er schließlich auch seines Vaters Sohn geworden.