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Und erst nachdem Owen die Wahrheit erkannt hatte, war ihm bewußt geworden, wieviel er verloren hatte und wie wichtig es für ihn war herauszufinden, wer seinen Vater ermordet hatte.

Er blickte auf, als Chance ihn ungeduldig zu sich winkte.

Owen ging zu ihm hinüber und blieb vor einer Pritsche stehen, in der ein Mädchen von höchstens zehn Jahren lag. Das Kind trug schäbige Kleidung, die zwei Nummern zu groß war, und es warf sich unruhig auf seiner Liege hin und her, als würde es in seinem Schlaf durch laute Stimmen gestört, die nur es allein hören konnte. Es hatte die Augen geschlossen, doch hin und wieder murmelte es unverständliche Worte und ganze Sätze.

Für Owen ergab nichts davon einen Sinn. Chance kniete neben der Pritsche nieder und zog eine halbvolle Papiertüte mit Bonbons hervor . Er nahm ein Bonbon und knetete es in den Fingern, bis es weich und geschmeidig war, dann steckte er es in den schlaffen Mund des Kindes. Das Kind fing langsam an zu kauen. Chance näherte sich mit dem Mund dem rechten Ohr des Mädchens.

»Zeit, das Spiel zu spielen, Katie«, sagte er. »Zeit, mir all die Dinge zu erzählen, die du weißt. Hier bei mir ist Owen Todtsteltzer. Er möchte wissen, wer seinen Vater getötet hat. Wes-sen Hand führte die Klinge, die seinem Leben ein Ende setzte? Wer war es, Katie?«

Das Mädchen runzelte die Stirn und schürzte unglücklich die Lippen, doch es wachte nicht auf. Nach einer Weile schluckte es den Rest des Bonbons herunter und sprach mit klarer Stimme: »Diese Frage hast du mir vor langer Zeit schon einmal gestellt. Die Antwort ist noch immer die gleiche. Es war der lächelnde Mörder, der Hai in seichten Gewässern, der Mann, der nicht aufgehalten werden kann, es sei denn, durch seine eigene Hand. Sein Name ist Kid Death. Kid Death hat den Todtsteltzer getötet.«

Owen nickte langsam. In seinem Gesicht regte sich kein Muskel, doch seine Hände waren zu Fäusten geballt. Er hatte nicht erwartet, diesen Namen zu hören; es überraschte ihn auch nicht. Kid Death war eine Zeitlang der Lieblingsassassine der Imperatorin gewesen. Sein richtiger Name lautete Lord Kit Sommer-Eiland. Inzwischen war er ein Befürworter der Rebellion und ein Freund von Owens entferntem Vetter, der den Titel des Lord Todtsteltzer angenommen hatte, nachdem Owen für vogelfrei erklärt worden war. Zur Zeit waren beide nach Virimonde unterwegs, der ruhigen Hinterwelt, die einst Owen gehört hatte. Es spielte keine Rolle. Und es spielte auch keine Rolle, daß Owen und Kid Death inzwischen auf der gleichen Seite kämpften . Owen würde ihn töten, sobald die Rebellion ihn nicht mehr benötigte, ebenso wie jeden, der ihm dabei in den Weg trat . Ein zögerndes Grinsen erschien auf Owens Gesicht, und er öffnete die Fäuste wieder. Wenigstens etwas, wor-auf er sich freuen konnte.

»Du bist nicht hergekommen, um mir diese Frage zu stellen«, sagte das Kind unvermittelt. Seine Augen bewegten sich unruhig unter den geschlossenen Lidern. »Es gibt noch etwas, das du mich fragen möchtest. Etwas, das du wissen mußt. Frag mich. Frag mich.«

»In Ordnung«, erwiderte Owen. Seine Brust war mit einemmal wie zugeschnürt, und es kostete ihn Mühe, ein Beben aus seiner Stimme zu halten. »Als ich das letzte Mal hier war, wurde mir erzählt, wie ich sterben würde. Ich muß wissen, ob sich daran etwas geändert hat.«

»Nein«, antwortete das Mädchen tonlos. »Du wirst hier in Nebelhafen sterben, allein und verlassen, im Kampf gegen eine Übermacht, die niemand alleine zu schlagen vermag. Und nach deinem Tod werden sie nicht einmal davor zurückschrecken, dir deine Stiefel zu stehlen.«

»Wann?« fragte Owen. »Wann wird das geschehen?«

»Deine Frage bezieht sich auf einen Zeitpunkt«, entgegnete das Kind und wandte den Kopf ab. »Ich habe die Zeit nie verstanden.«

»Versuch es bitte«, verlangte Owen. »Versuch es, verdammt noch mal!«

Er streckte die Hände aus, um das Mädchen an den Schultern zu packen, doch Chance kam ihm zuvor und zog ihn von der Pritsche weg. Owen schüttelte den schweren Mann ohne jede Mühe ab; aber der Augenblick war vergangen, und er hatte sich wieder unter Kontrolle. Schwer atmend stand er über dem schlafenden Kind… und wandte sich ab.

»Es spielt keine Rolle«, sagte er schließlich mehr zu sich selbst als zu Chance. »Ich weiß seit Virimonde, daß ich für jeden neuen Tag dankbar sein muß. Ich hätte eigentlich schon dort sterben sollen. Nur ein Wunder hat mich gerettet. Niemand darf mehr als ein Wunder in seinem Leben erwarten.

Trotzdem ist es hart, sein eigenes Todesurteil zu hören und zu wissen, daß es nichts, aber auch wirklich absolut gar nichts gibt, das man daran ändern könnte.«

»Wenn Ihr die Antworten nicht hören wollt, dann dürft Ihr die Fragen nicht stellen«, erklärte Chance. »Außerdem habe ich ja bereits gesagt: Ihr dürft den Vorhersagen der Präkos nicht trauen. Würden sie sich niemals irren, dann wäre ich inzwischen längst ein reicher Mann. Ich gebe Euch ein Beispieclass="underline" Seit einer ganzen Weile sagen meine Kinder übereinstimmend, daß etwas wirklich Böses auf dem Weg nach Nebelhafen ist, aber nicht zwei von ihnen stimmen darin überein, um was zur Hölle es sich dabei handelt. Ich habe nichts weiter als einen Namen: Legion. Und bis jetzt seid Ihr das einzig Unangenehme, das hier aufgetaucht ist…«

»Es spielt keine Rolle«, unterbrach ihn Owen. »Wenn ich sterben muß, dann sterbe ich aufrecht, wie es sich für einen Todtsteltzer gehört

»Oh, sehr poetisch!« spottete Chance. »Gott bewahre mich vor Helden. Seht mal, ich habe ein Geschäft, das weiterlaufen muß. Paßt auf, daß Euch die Tür bei Eurem Weg nach draußen nicht in den Rücken schlägt.«

»Seid still!« fauchte Owen. »Wir haben noch einiges zu besprechen. Meine ersten Fragen waren rein persönlicher Natur.

Jetzt kommen wir zu den wirklich wichtigen Dingen. Ich bin hier als Repräsentant der Untergrundbewegung von Golgatha, und ich rufe in ihrem Namen offiziell das alte Spionagenetz meines Vaters in Nebelhafen wieder ins Leben zurück. Er hat nicht allein Euch und Abraxus finanziell unterstützt; es gibt über die Stadt verteilt Dutzende von Leuten und Geschäften, die er gegründet und unterstützt hat, als Gegenleistung für das Sammeln und Weiterleiten nützlicher Informationen. Einige dieser Geschäfte scheinen tatsächlich äußerst erfolgreich zu laufen. Sie sind zu Macht und Einfluß gelangt, und das in einer Stadt wie dieser.

Nach der Ermordung meines Vaters trocknete der Informati-onsfluß nach und nach aus. Wahrscheinlich dachten sie, sein Tod befreie sie von ihren Verpflichtungen . Ich bin gekommen, um ihnen klarzumachen, daß sie sich geirrt haben. Heute bin ich der Todtsteltzer, und jetzt treibe ich die Schulden ein, mitsamt Zinsen. Das alte Netzwerk wird seine Arbeit wieder aufnehmen, und diesmal wird es seine Informationen an die Rebellion weiterleiten, oder ich werde höchstpersönlich jeden einzelnen dieser Hurensöhne in den Ruin treiben. Einschließlich Euch, Chance.«

»Scheiße!« entfuhr es dem Manager des Abraxus-Informationszentrums.

»Wenn Ihr es so nennen wollt…« Owen grinste fröhlich.

»Ihr könnt damit anfangen, mir Namen und Orte zu nennen, die Ihr kennt. Den Rest erfahren wir von Euren Espern. Im Anschluß daran werdet Ihr mir dabei behilflich sein, ein Treffen aller beteiligten Parteien zu arrangieren, und zwar noch im Laufe des heutigen Tages genaugenommen innerhalb der nächsten zwei Stunden, falls ihnen an ihren Geschäften und einigen lebenswichtigen Innereien noch etwas liegt. Fangt an, Chance.

Ich habe viel zu tun, und vielleicht bleibt mir nicht soviel Zeit, wie ich ursprünglich dachte, um alles zu erledigen

Chance nahm durch seine Esper mit den richtigen Leuten Verbindung auf, eine Prozedur, von der Owen ganz definitiv aus-geschlossen war. Er wartete ungeduldig auf den Stufen vor den Geschäftsräumen und überlegte, ob er seine Initialen in die Tür oder lieber in die Mauer schnitzen sollte. Chance tauchte ein paar Minuten später wieder auf und zuckte beim Anblick von Owens Werk zusammen. Wortlos führte er Owen die Außentreppe hinunter und in das verwirrende Labyrinth enger Straßen und Gassen, aus dem das Zentrum von Nebelhafen bestand.