Er sank neben Hazel in die Knie und nahm sie behutsam in die Arme. Sie lehnte den Kopf gegen seine Brust, und er wiegte sie sanft. Sie fühlte sich unglaublich leicht an in seinen Armen, als triebe sie bereits langsam von ihm weg. Rasch war seine Kleidung durchnäßt von ihren Blut, doch er bemerkte es nicht. Einmal mehr suchte er nach seinen Kräften, und wieder reagierten sie nicht. Was auch immer das Labyrinth des Wahnsinns ihm geschenkt hatte, es waren Kräfte der Zerstörung und nicht der Heilung.
Er konnte eine ganze Armee erschlagen, doch er konnte die einzige Person nicht retten, die ihm mehr als alles andere bedeutete. Seine Brust war wie zugeschnürt, und er konnte kaum atmen. Hazel hob langsam den Kopf und versuchte, ihn anzulächeln. Ihre Zähne waren rot von Blut.
Owen begann zu weinen.
Schwere rasselnde Schluchzer schüttelten seinen gesamten Körper. Hazel bemühte sich, noch etwas zu ihm zu sagen , doch dann verließ sie auch noch ihre letzte Kraft , und sie lag tot in seinen Armen .
Owen drückte sie fest an sich und wiegte sie wie ein schlafendes Kind.
»Ich hab’ das doch alles nur für dich getan« , sagte er schluchzend. »Ich hab’ doch alles nur für dich getan , Hazel.«
Er hörte , wie sich Schritte näherten , aber er blickte nicht auf.
Er wollte mit niemandem reden. Doch dann hörte er , wie jemand mit Hazels Stimme leise seinen Namen sagte. Er hörte auf zu weinen, und wilde Hoffnung erfüllte sein Herz; doch erst, als die tote Hazel in seinen Armen einfach verschwand, begriff er, was geschehen war. Er sah nach oben, und dort stand Hazel d’Ark. Diesmal war es die echte Hazel. Er rappelte sich auf, und dann stand er einfach nur da und schaute sie an.
Owen hatte Angst, sie zu berühren, weil sie sich vielleicht ebenfalls in Luft auflösen könnte. Schließlich streckte sie die Hände aus und nahm ihn in die Arme, und er umklammerte sie so heftig wie ein Ertrinkender sich an einem Rettungsring festhält. Und so standen sie lange Zeit da und atmeten schwer, und niemand sagte ein Wort.
»Ich dachte, ich hätte dich verloren«, brachte Owen schließlich hervor. »Ich habe wirklich geglaubt, ich hätte dich verloren.«
»Alles ist gut, Owen«, antwortete Hazel leise. »Ich bin ja da.
Ich werde immer für dich dasein.«
Nach einer Weile lösten sie sich wieder voneinander und traten zurück, um sich anzusehen. Owen wischte sich mit dem Handrücken die letzten Tränen aus dem Gesicht. Hazel lächelte ihn unsicher an. Dann sah sie sich in der Vorhalle um und nickte beeindruckt, als sie die vielen Toten erblickte.
»Nicht schlecht, Aristo«, sagte sie. »Erinnere mich daran, daß ich dich niemals wütend auf mich mache.«
»Das wird nie geschehen«, sagte Owen mit einer Stimme, die noch immer ein wenig rauh und unsicher klang. »Hazel, ich…«
»Ich weiß, Owen. Laß uns später darüber reden, ja? Zuerst einmal müssen wir ein Imperium stürzen .«
Owen schüttelte den Kopf . »Bei dir kommt das Geschäft immer an erster Stelle, was?«
Johana Wahn und Giles kamen herbei. Johana hatte die Zeit damit verbracht, ESP-Blocker zu zerstören, und Giles hatte sich ein Taschentuch um den Kopf geschlungen, um die Blutung zu stoppen. Es war nicht das sauberste Taschentuch, doch Owen verzichtete auf einen diesbezüglichen Kommentar. Mit dem angetrockneten Blut im Gesicht sah sein Urahn fast wie ein antiker Seeräuber aus.
»Nette Schau, Todtsteltzer«, sagte Johana Wahn steif. »Ich muß sagen, ich bin beeindruckt. Und Ihr seid sicher, daß Ihr nicht in Wirklichkeit die verkleidete Mater Mundi seid?«
»Ganz sicher«, antwortete Owen. »Was auch immer ich bin oder werde, ein Esper ist es nicht. Es ist… irgendwie mehr als das.«
»Trotzdem hast du dich wacker geschlagen, Verwandter«, sagte Giles. »Als Gelehrter wärst du die reinste Verschwendung gewesen, mein Junge.«
Tobias und Flynn kamen aus dem Alkoven zum Vorschein, wo sie sich verkrochen hatten, und eilten zu den anderen.
Flynns Kamera schwebte hinter ihnen her.
»Wir sind ebenfalls unverletzt, für den Fall, daß es irgend jemanden interessiert«, sagte Tobias ein wenig beleidigt.
»Oh, wir haben uns keinerlei Sorgen um Euch gemacht«, erwiderte Hazel. »Jedermann weiß, daß Journalisten schwieriger umzubringen sind als Kakerlaken.«
Und dann, als hätten sie sich heimlich abgesprochen, drehten sich alle gleichzeitig um und sahen auf die großen stählernen Doppeltüren, die zu Löwensteins Hof führten. Mit einemmal war es in der Vorhalle ungewöhnlich still, als warteten selbst die Toten gespannt auf das, was als nächstes geschehen würde.
»Sollen wir klopfen?« fragte Hazel. »Oder sprengen wir uns einen Weg hinein?«
»Ich glaube nicht, daß wir klopfen müssen«, sagte Giles.
»Die Löwenstein weiß, daß wir hier sind. Sie weiß sicherlich auch, daß sie uns nicht am Betreten ihres Hofes hindern kann.«
Wie auf ein geheimes Zeichen hin schwangen die massiven schweren Türen langsam und lautlos auf. Blutrotes Licht fiel in die Vorhalle, und mit dem Licht kam der Gestank von Blut und Schwefel. Owen und Hazel setzten sich in Bewegung. Beide hielten ihre Schwerter und Pistolen in den Händen, und gemeinsam traten sie in die Hölle ein.
Am Hof vor dem Eisernen Thron gab Alexander Sturm seinem Bedürfnis zu prahlen nach. Sein Leben als Imperialer Agent tief im Innern des Apparats der Rebellen hatte natürlich dazu geführt, daß er niemandem sagen konnte, wer und was er in Wirklichkeit war, so daß er nun die ersehnte Gelegenheit beim Schöpf ergriff und eine kleine Schau veranstaltete. Die Imperatorin lächelte anerkennend auf ihn herab, und Dram und Valentin blickten ziemlich eifersüchtig drein. Razor und der Sommer-Eiland starrten ihn von ihren Plätzen unmittelbar hinter dem Eisernen Thron kalt an, doch Sturm scherte sich keinen Deut um die Meinung der beiden. Razor war ein Investigator, und der Sommer-Eiland war ein Psychopath. Auch Schwejksam, Frost und Stelmach zählten nicht. Die drei waren bekannt dafür, daß sie die Imperatorin immer wieder enttäuscht hatten… wohingegen er, Alexander Sturm, brillante Erfolge vorwei-sen konnte.
»Ich bin Imperialer Agent, seit die Rebellen auf Eisfels ihre Köpfe in die Hände gedrückt bekamen«, berichtete Sturm seinen Zuhörern voller Stolz. »Ich sah, wie Jakob fiel und gefangengenommen wurde, und ich wußte: Das war das Ende jeglicher Hoffnung für die Rebellion. Ich hatte so lange gekämpft, und das sollte alles völlig umsonst gewesen sein? Also ergab ich mich und schlug dem Imperium einen Handel vor. Es war ganz leicht. Sie waren froh, daß sie mich hatten. Sie erkannten meinen Wert. Seither habe ich mich tiefer und tiefer ins Herz des Untergrunds geschwindelt, und ein verdammter Dummkopf nach dem anderen schenkte mir sein Vertrauen. Ich sabotierte und unterlief ihre Operationen fast nach Belieben. Niemand hat mich jemals verdächtigt. Ich war Alexander Sturm, der große Rebellenheld, der Freund und Kamerad des legendären Jakob Ohnesorg.
Ich machte mir ziemliche Sorgen, als Jakob plötzlich wieder auf der Bildfläche erschien, doch die Hirntechs hatten ganze Arbeit geleistet. Sie hatten dafür gesorgt, daß er sich kaum noch an seine Zeit auf Eisfels erinnerte, geschweige denn an meine Fahnenflucht und meinen Verrat. Er erinnerte sich noch nicht einmal daran, daß ich den Hirntechs dabei half, ihn zu foltern und zu konditionieren, um meinen neuen Herren meine Loyalität zu beweisen. Als er dann wieder auftauchte und ich ihm nicht mehr länger ausweichen konnte, weil ich sonst Verdacht erweckt hätte, da waren wir wie alte Freunde, die sich nach langer Zeit wiedersahen. Er hat niemals hinter mein Lächeln geblickt und die Verachtung in meinen Augen gesehen.