Innerhalb weniger Augenblicke war alles vorbei, und Johana zog sich aus den Gehirnen der Mädchen zurück. Die Jungfrauen hörten auf, sich wie Tiere zu gebärden und setzten sich auf.
Zum ersten Mal seit Jahren dachten und fühlten sie wieder wie Menschen. Zuerst waren sie wie betäubt; dann kamen sie allmählich wieder zu sich und fanden ihr altes Selbst. Einige schrien auf bei der Erinnerung an das, was sie getan hatten – was zu tun, sie die Löwenstein gezwungen hatte. Sie schüttelten sich und zitterten am ganzen Leib. Ihre künstlichen Augen konnten nicht weinen. Andere blickten sich einfach nur in äußerster Verwirrung um. Tobias Shreck starrte angespannt auf eine der ehemaligen Jungfrauen, dann trat er einen Schritt vor.
»Klarissa? Klarissa, bist du es?«
Die Jungfrau blickte den Nachrichtenmann verständnislos an, und nach einigen Sekunden zeichnete sich Erkennen auf ihrem Gesicht ab. »Tobias! Cousin Tobias!«
Sie rannte in seine Arme. Tobias drückte sie fest an sich; dann zog er seine mitgenommene Jacke aus und wickelte sie darin ein. Klarissa blickte sich um und sah zum ersten Mal die Hölle, in die Löwenstein ihren Hof verwandelt hatte.
»Sind wir tot, Tobias?«
»Nein, Cousine. Du lebst wieder. Die Rebellion ist zu euch gekommen, und alle Gefangenen erhalten ihre Freiheit zu-rück.« Er drehte sich zu den anderen um. »Sie gehört zu meiner Familie. Sie ist die Nichte des Shreck. Die Löwenstein stahl sie meinem Onkel Gregor und verwandelte sie in ein Monster, und niemand von uns konnte etwas dagegen tun. Ich danke Euch, Johana. Wobei mir der Gedanke kommt, daß eine ganze Menge Leute Euch wahrscheinlich danken wollen.«
»Keine große Sache«, erwiderte Johana Wahn. »Ich bin der Meinung, daß es genug Blutvergießen gegeben hat. Das ist Löwensteins Weg. Wir sind anders, oder wir sollten zumindest anders sein. Ihr und Flynn, Ihr kümmert Euch um die Jungfrauen. Wir sind noch immer nicht mit unserer Arbeit am Ende.«
Und während Tobias und Flynn die Jungfrauen aufsammel-ten und aus der Schußlinie scheuchten, trat Johana vor den Thron und konfrontierte die Löwenstein aufs neue. Und dann hielt sie inne, denn Kapitän Schwejksam trat unsicher vor und starrte sie mit fragenden Blicken an. Sie erwiderte seine Blicke, ohne ihm die Sache leichter zu machen, aber schließlich erhellte sich Schwejksams Gesicht.
»Diana?«
»Nein, das bin ich nicht mehr«, erwiderte Johana. »Das war jemand anderes.«
»Du bist kaum wiederzuerkennen . Du siehst so… anders aus.«
»Das nennt man erwachsen werden, Kapitän. Irgendwann geschieht das mit jedem.«
»Er kennt diese Person?« fragte die Löwenstein mit gerunzelter Stirn.
»Selbstverständlich«, antwortete Frost für ihn. »Das ist seine Tochter Diana. Diana Vertue. Sie war Schiffsesper auf seinem letzten Schiff.«
Schwejksam blickte zu Frost. »Das wußtet Ihr? Seit wann?«
»Ich erkannte ihr Bild in einer Postille der Sicherheit. Es war vor ein paar Monaten.«
»Und warum habt Ihr mir nichts gesagt?«
»Ihr wart noch nicht bereit, es zu verdauen. Ich bin nicht einmal sicher, ob Ihr es jetzt seid. Und ich wollte nicht, daß es Euch von Eurer Verantwortung für das Schiff und Eure Leute ablenkt.«
Schwejksam drehte sich wieder zu Johana Wahn um. »Man hat mir erzählt, daß du dich dem Untergrund angeschlossen hättest. Aber was ist aus dir geworden? Was ist mit deiner Stimme? Du siehst aus…«
»Als wäre ich durch die Hölle gegangen? Das bin ich. Dieser Ort hier jagt mir keinen Schrecken mehr ein. Ich habe die echte Hölle gesehen . Ich bin nicht mehr Diana Vertue. Sie starb schreiend in den Verhörzellen von Silo Neun, auch bekannt als Hölle des Wurmwächters . Jetzt bin ich Johana Wahn. Für heute und für immer. Aber sind wir nicht beide andere Menschen als früher, Vater? Auch du hast dich verändert. Aus dieser Nähe kann ich spüren, wie die Energien des Labyrinths des Wahnsinns in dir brennen . Wie fühlt es sich an, Vater, zu wissen, daß man zur gleichen Sorte Person geworden ist, die man früher gejagt und getötet hat?«
»Diana…«
»Johana. Ich heiße Johana.«
»Also schön, Johana. Ich hatte keine Ahnung, daß man dich in Silo Neun gesteckt hat. Wenn ich es gewußt hätte, wäre ich…«
»Was? Willst du sagen, du wärst mit Gewalt in eins der best-bewachten Gefängnisse des Imperiums eingebrochen, um mich zu retten?«
»Ja«, sagte Schwejksam einfach. »Wenn ich es gewußt hätte, wäre ich zu dir gekommen.«
Johana nickte langsam. »Ja. Vielleicht hättest du das wirklich getan. Aber das ist nicht geschehen. Auf Unseeli hast du mir etwas versprochen, Vater. Du hast versprochen, nie wieder zuzulassen, daß man mich quält. Du hast mich belegen, Vater.«
»Es tut mir leid, mein Kind. Es tut mir so unendlich leid.«
»Und jetzt stehen wir hier, auf unterschiedlichen Seiten, und führen Krieg gegeneinander. Und all das nur wegen der Eisernen Hexe. Wie kannst du sie nur immer noch verteidigen, nach allem, was sie getan hat? Nach allem, was sie mir angetan hat?«
»Sie ist meine Imperatorin«, antwortete Schwejksam.
Die Löwenstein sprang von ihrem Thron herab, stolzierte zu Schwejksam und schlug ihm hart ins Gesicht. Sein Kopf flog nach hinten, doch er blieb stehen. Die Löwenstein brachte ihr Gesicht ganz dicht vor das seine, so dicht, daß ihr Speichel in sein Gesicht spritzte, als sie sprach. »Verräter! Verdammter Verräter! Er hat seine Kräfte vor Uns verborgen; Er hat uns in jeder Mission enttäuscht, die Wir ihm gaben, und jetzt finden Wir heraus, daß Seine eigene Tochter einer der größten Feinde des Imperiums ist! Verräter!«
»Das mag alles zutreffen, Euer Majestät«, erwiderte Schwejksam mit fester Stimme. »Trotzdem seid Ihr noch immer meine Imperatorin.«
Die Löwenstein lachte ihm ins Gesicht und holte zu einem weiteren Schlag aus. Und dann ächzte sie laut, und ihre Augen weiteten sich.
Eine unsichtbare Kraft hatte ihre Hand gepackt und riß sie nach hinten. Sie versuchte, sich zu befreien, doch es ging nicht.
Ihr Blick wanderte zu Johana Wahn, die sie finster anstarrte.
»Das reicht, Hexe. Das ist mein Vater, und du wirst ihn nicht noch einmal schlagen.«
»Ich begrüße deine Geste, Johana«, sagte Schwejksam.
»Aber jetzt laß sie los. Bitte.«
Johana rümpfte die Nase, lockerte ihren Griff und versetzte der Imperatorin einen mentalen Stoß, der sie zu ihrem Thron zurückstolpern ließ. Rasch fand die Löwenstein ihr Gleichgewicht wieder. Mit trotziger Erhabenheit nahm sie auf dem Thron Platz . Sie war noch immer die Imperatorin, und sie war noch längst nicht geschlagen. Sie starrte um sich, und ihr Blick fiel auf Valentin Wolf.
»Seht mich nicht an«, sagte der Wolf. »Ich erkenne eine verlorene Sache, wenn ich eine sehe. Sicher, ich könnte für Euch kämpfen. Ich besitze Drogen, die mir das ermöglichen. Aber ich erkenne wirklich keinen Sinn darin. Die Zeit der Rebellen ist gekommen. Und wie es scheint, habe ich mich ein wenig zu voreilig vom Untergrund losgesagt. So. Ich werde mich aus allem heraushalten und meine Dienste der Seite anbieten, die hinterher als Sieger dasteht. Leute wie ich werden immer gebraucht.«
»Du kämpfst nur deshalb nicht, weil du Angst hast, du könntest dein Make-up verschmieren«, sagte Hazel.
Valentin grinste. »Das auch.«
»Meint Ihr wirklich, wir würden Euch vergeben, was Eure Kriegsmaschinen auf Virimonde angerichtet haben?« fragte Owen. »Glaubt Ihr allen Ernstes, wir würden Euch all das Entsetzen und Blutvergießen und Leiden vergeben, das Ihr über eine harmlose Bevölkerung aus Bauern gebracht habt, Wolf?«