Der Nebel war dünner geworden, doch inzwischen hatte ein feiner, störender Nieselregen eingesetzt und den Schnee unter ihren Schritten in rutschigen Matsch verwandelt. Owen hielt sich dicht hinter Chance und versuchte, nicht an das zu denken, was er gerade seinen nicht eben billigen neuen Stiefeln antat.
Nach einer Weile verließen sie das Händlerviertel und kamen ins Quartier der Gilden. Die Straßen und Gebäude hier befanden sich in einem sichtlich besseren Zustand. Es gab richtiges Pflaster, und in regelmäßigen Abständen brannten helle Laternen, einige davon sogar mit elektrischem Licht. Die Gebäude waren ebenso dekorativ wie funktional, und die vorüberkom-menden Menschen sahen reicher, wenn schon nicht glücklicher aus als ihre Nachbarn im Händlerviertel. Vor einem der älteren Gildehäuser blieb Chance schließlich stehen. Er wartete einen Augenblick, damit Owen das Haus betrachten und gebührend beeindruckt sein konnte. Es war ein massives, flaches Gebäu-de, drei Stockwerke hoch, gotische Bögen, große Glasfenster.
Hunderte hölzerner Rokoko-Kinkerlitzchen bedeckten jeden freien Quadratzoll. Die Dach rinnen endeten in großen, gemeißelten Wasserspeiern aus Stein, aus deren Mäulern sich Wasser ergoß, was den unvorteilhaften Eindruck erweckte, als würden die Skulpturen sich auf die Passanten erbrechen. Vielleicht war das sogar Absicht. Schließlich war das hier ein Gildehaus.
Owen wollte Chance nicht vor den Kopf stoßen, indem er ihm sagte, daß er an Löwensteins Hof beeindruckendere Toiletten gesehen habe, also nickte er nur nachdenklich, um zu zeigen, daß er genügend beeindruckt war, und bedeutete Chance mit einer Geste vorauszugehen.
Vor dem Eingang standen zwei bewaffnete Wachen. Sie verbeugten sich respektvoll vor Chance, während sie Owen ignorierten. Er verzichtete darauf, sie zu töten. Schließlich wollte er keine Szene machen. Noch nicht.
Das Foyer hinter den mächtigen Türen war groß, gemütlich und äußerst repräsentativ. Die Wände waren mit Paneelen aus glänzendem Holz verkleidet, der Holzboden auf Hochglanz gebohnert, und alles strahlte im Licht elektrischer Lampen – Lampen, die nicht so sehr dazu dienten, Licht zu erzeugen, sondern um gebührende Bewunderung hervorzurufen.
Die zahlreichen Möbel und anderen Einrichtungsgegenstände waren luxuriös bis hin zur Opulenz. Der Raum stank förmlich nach Geld wie eine alte Familienbank. Owen verspürte einen Hauch von Heimweh.
Nachdem sie durch den Eingang getreten waren, ihre Stiefel auf dem Metallrost abgetreten und den Schneematsch von ihren Umhängen gebürstet hatten, trat ihnen ein Butler in den Weg.
Der Mann trug einen altmodischen Frack, eine gepuderte Pe-rücke und auf dem Gesicht einen lange geübten Ausdruck höchster Mißbilligung. Chance reichte ihm seine Visitenkarte, und der Mann nickte kaum wahrnehmbar. Dann nahm er Chances und Owens Umhänge mit Daumen und Zeigefinger und reichte sie einem Lakaien, der sich beeilte, sie entgegenzunehmen. Anschließend verlangte er, daß die Besucher ihre Waffen herausgaben, und damit fing der Ärger an.
»Ich gebe meine Waffen niemandem«, widersprach Owen energisch.
»Macht keinen Wirbel«, riet ihm Chance. Er öffnete seinen Gürtel und reichte dem Butler das Schwert. »Es ist nicht persönlich gemeint. Normale Sicherheitsbestimmungen. Jeder macht das.«
»Ich bin aber nicht jeder«, entgegnete Owen . »Und ich behalte meine Waffen. Sie würden sich ohne mich nackt fühlen.«
»Ich muß darauf bestehen«, erklärte der Butler in eisigem Ton. »Wir lassen nicht jeden Dahergelaufenen von der Straße herein, wißt Ihr?«
Owen versetzte ihm einen Kinnhaken.
Der bewußtlose Butler stürzte mit einem befriedigend lauten Poltern in einiger Entfernung auf den gewachsten Holzboden und schlitterte noch einen guten Meter, bevor er reglos liegenblieb. Überall drehten sich Köpfe nach Owen um. Einige der Anwesenden schienen seine Tat durchaus gutzuheißen. Aus bis dahin verborgenen Nischen und Türen stürzten Wachen mit gezogenen Schwertern – und verharrten zu Salzsäulen erstarrt, als Owen demonstrativ die Hand auf den Griff seiner Energiewaffe legte.
»Er gehört zu mir«, sagte Chance in die plötzliche Stille hinein. »Obwohl ich wünschte, es wäre nicht so. Er wird erwartet.«
Die Sicherheitsleute warfen sich fragende Blicke zu, zuckten die Schultern und steckten die Schwerter wieder weg. Ganz offensichtlich waren sie zu dem Schluß gekommen, daß dieses Problem sie nichts anging. Die übrigen Leute im Foyer dachten offenbar genauso und wandten sich wieder ihren leisen Gesprächen zu. Owen nickte liebenswürdig lächelnd in alle Richtungen, während der bewußtlose Butler weggetragen wurde.
»Bitte macht das nicht noch einmal«, sagte Chance. »Der erste Eindruck ist verdammt wichtig.«
»Das denke ich auch«, entgegnete Owen. »Und jetzt setzt Euch endlich in Bewegung, oder soll ich erst noch in die Blu-mentöpfe pinkeln?«
»Ich wünschte, ich könnte glauben, daß das ein Scherz war«, brummte Chance. »Hier entlang. Versucht wenigstens , niemand Wichtigen umzubringen, ja?«
Sie drangen in die Tiefen des Gebäudes vor. Offensichtlich hatte es Chance ziemlich eilig. Die Umgebung blieb ge-schmackvoll luxuriös. Diener und richtige Menschen eilten schweigend hin und her, um irgendwelche wichtigen Dinge zu erledigen. Sprechen war anscheinend verpönt oder gar verboten, denn Owen hörte nichts außer einem gelegentlichen Rüstern. In ihm wuchs das lausbübische Bedürfnis, sich von hinten an eine der schweigenden Ikonen heranzuschleichen und laut »Buh!« zu rufen, nur um zu sehen, was anschließend passieren würde.
Leider hatte er keine Zeit dafür. Aber vielleicht auf dem Rückweg?
Alle sahen glatt und geschäftsmäßig aus, die Kleidung ein wenig altmodisch – aber das hier war schließlich auch nur die Nebelwelt. Die Menschen schienen Chance zu kennen, und niemand verpaßte die Gelegenheit, ihm naserümpfend hinter-herzublicken, wenn sie glaubten, er würde es nicht sehen.
Chance ignorierte sie hochmütig. Schließlich endete der Korridor in einem Vorzimmer vor einer grimmig dreinblickenden Sekretärin, deren einzige Aufgabe es zu sein schien, ihren Vorgesetzten vor unerwünschten Besuchern zu schützen. Sie war schlank, wenn nicht gar dürr, und sie sah aus, als sei sie hart genug, um Glas zu zerbeißen . Wahrscheinlich schärften die Wachen in ihrer Freizeit die Schwerter an ihr . Die Kleidung der Frau verbarg sorgfältig jeden Hinweis auf Weiblichkeit, und ihr Blick war streng genug, um jedes Unkraut welken zu lassen.
»Falls Ihr keinen Termin habt, kann ich nichts für Euch tun«, erklärte sie in einem Ton, der so kalt war, daß ein Pinguin er-froren wäre. »Falls Ihr es wünscht, kann ich Euch natürlich einen Termin geben, doch ich weiß jetzt schon, daß Herr Neeson in den nächsten Wochen keinen Platz mehr in seinem Ka-lender hat.«
Chance blickte zu Owen. »Weiter kann ich Euch nicht helfen. Es gibt Hindernisse, die sind für mich einfach zu groß.
Und bitte, schlagt sie nicht.«
»Daran würde ich nicht einmal im Traum denken«, entgegnete Owen. »Ich würde mir wahrscheinlich sowieso nur die Hand brechen.« Er beugte sich über den Schreibtisch und starrte der Sekretärin in die feuersteinharten Augen. »Mein Name ist Owen Todtsteltzer. Meines Vaters Geld hat dieses Geschäft ermöglicht. Ich bin gekommen, um die Schuld einzutreiben.
Und zwar sofort.«
Die Sekretärin zuckte ob dieser Worte noch nicht einmal zusammen, obwohl bei der Nennung des Namens Todtsteltzer eine Augenbraue leicht nach oben wanderte. »Ich verstehe. Ich bin sicher, daß Herr Neeson unter normalen Umständen nur allzu gerne bereit wäre, mit Euch zu sprechen; doch wie die Dinge im Augenblick stehen… Mein Schreibtisch ist übervoll mit…«