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Schließlich lehnte sich Hazel in ihrem Sessel zurück und stöhn-te laut auf, als die vertraute Hitze durch ihren Körper strömte und ihr zu neuer Kraft, neuem Selbstvertrauen und neuer Energie verhalf. Der Druck, die Pflichten und die Zweifel, die sie plagten, waren wie weggewischt. Zum ersten Mal seit Tagen entspannten sich ihre Gesichtszüge. Zögernd lächelte sie. Es war ein wunderbares Gefühl.

Silver beobachtete Hazel. Er schwieg, bis er sicher war, daß die Wirkung eingesetzt hatte. Ursprünglich hatte er geplant, selbst etwas zu nehmen; doch die Erinnerung an das, was Hazel in der schlimmsten Zeit ihrer Sucht gewesen war, hatte ihn umgestimmt. Er war kein Junkie. Er hatte sich selbst unter Kontrolle. Also blieb er sauber und beschloß, Hazel zu helfen, indem er über sie wachte. Noch während er dies dachte, riß Hazel die bis dahin halb geschlossenen Augen auf, sprang aus ihrem Sessel und blickte wild um sich. Silver stand ebenfalls auf, setzte seinen Becher ab und packte Hazel an den Armen.

Sie schien ihn nicht zu bemerken, und ihre Arme waren so steif und unnachgiebig wie Stahlstreben. Silver beobachtete sie besorgt. Man mußte vorsichtig sein mit Plasmasäufern, wenn man nicht selbst Blut getrunken hatte. Dank ihrer neugewonnenen Kräfte konnten sie einen normalen Menschen im Handumdre-hen töten, und sie würden einen Dreck darauf geben, auch wenn der Effekt des Blutes wieder nachgelassen hatte.

Hazel drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und starrte wild mit weit aufgerissenen Augen in einem plötzlich verhärmt wirkenden Gesicht um sich.

»Hazel?« sagte Silver und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. »Was ist? Stimmt etwas nicht?«

»Es… es ist anders«, antwortete Hazel mit schwerer Zunge.

»Ich bin anders. Ich hätte hier auf dieser Welt kein Blut trinken dürfen. Nicht mit so vielen Espern ringsum. Sie… beeinflus-sen mich. Ich kann nicht mehr unterscheiden, was in meinem Kopf ist und was draußen. Das Blut hat irgend etwas in mir aufgeweckt… etwas, von dem ich nicht einmal wußte, daß es da war. Ich kann Dinge sehen, John. Viele Dinge. Nichts ist mehr vor mir verborgen.«

Sie starrte auf die Wand vor sich, und plötzlich war die Mauer verschwunden! Es dauerte einen Augenblick, bis Silver begriff, daß er sah, was Hazel sah. Ihr Bewußtsein hatte sich mit dem seinen verbunden und zeigte ihm, was im benachbarten Zimmer vor sich ging: Der junge Dieb und Einbrecher namens Katze leerte einen kleinen Lederbeutel voller glänzender Juwelen auf einen Tisch, und seine Hehlerin, die Frau namens Cyder, lachte und klatschte in die Hände.

Hazel drehte den Kopf in eine andere Richtung, und die Wand wurde wieder sichtbar. Sie starrte die gegenüberliegende Wand an, die daraufhin ebenfalls verschwand und den Blick auf eine Runde sich streitender Kartenspieler freigab.

Silver wollte Hazel schütteln; doch sie war so steif und hart wie eine Statue. Plötzlich schaute sie ihm in die Augen, und im gleichen Augenblick fühlte er sich nackt und durchschaubar, als würde sie alles von ihm wissen, Gutes und Böses und die Dinge dazwischen. Hazel schien größer geworden zu sein, größer als Silver, und sie ragte über ihm auf wie ein antiker Gott der Gerechtigkeit ohne jede Spur von Mitleid oder Gnade. Silver wich zurück und ließ Hazels Arme los, als hätte er sich verbrannt. Hazels Blick richtete sich nach innen, und rings um sie herum entstanden Bilder und Visionen. Sie kamen und gingen im Sekundentakt, und sie zeigten Gesichter und Orte, von denen Silver zumindest einige erkannte.

Ein alter Mann saß zusammengesunken auf einer Pritsche, erschöpft und gescheitert am Leben selbst. Er trug Hausmei-sterkleidung. »Sie haben mich gebrochen«, sagte er. »Geht, und sucht Euch einen anderen Führer und Heilsbringer.« Dann war er verschwunden, und Owen Todtsteltzer nahm seinen Platz ein. Er blutete aus zahlreichen Wunden und hieb mit dem Schwert auf unsichtbare Feinde ein. »Wenn Ihr die Lücke erkennt, dann rennt los, Hazel! Ich halte sie solange auf.« Ein Mob aus Schatten stürmte von allen Seiten heran, und der Todtsteltzer ging schwertschwingend zwischen ihnen unter.

Die Szene verschwand, und eine grinsende Ruby Reise erschien. »Ich mache nur wegen der Beute mit.«

Silver unternahm einen zweiten Versuch, Hazel aus ihrer Trance zu rütteln; doch er kam noch nicht einmal in ihre Nähe.

Die Erinnerungen besaßen die Macht der Wirklichkeit.

Ruby Reise wich einer großen, pelzigen, wolfsähnlichen Gestalt. Mit plötzlichem Schrecken erkannte Silver, daß er einen der legendären Wolflinge vor sich hatte. Das riesige Wesen blickte Silver tief in die Augen und sagte: »Eine traurige und bittere Ehre, der letzte seiner Art zu sein.« Er verschwand und wurde von einem Hadenmann mit leuchtenden goldenen Augen ersetzt. Hinter dem Hadenmann ragte ein gewaltiger Bie-nenstock aus Gold und Silber auf, der dick mit Eis überzogen war. Die lange verlorene Gruft der Hadenmänner. Der aufgerüstete Mann namens Tobias Mond starrte Silver an und sagte mit seiner summenden, unmenschlichen Stimme: »Wir wollten nie etwas anderes als unsere Freiheit.« Und dann schmolz das Eis, und die Luft verschwamm in seltsamen Farben, als die Hadenmänner aus ihrer Gruft kamen, großartig und glorreich und perfekt jenseits aller Menschlichkeit. Dann war wieder Owen Todtsteltzer zu sehen, der Hazel traurig in die Augen schaute. »Ihr könnt nicht gegen das Böse kämpfen, indem Ihr selbst böse werdet.«

Hazel wandte sich von ihm ab und blickte zu Silver, und der Todtsteltzer verschwand. Ihre Augen trafen sich, und neue Visionen erschienen. Silver, der mit Halsabschneidern und Abschaum Geschäfte machte, um den Frieden auf Nebelhafens Straßen zu erhalten. Silver, der Knochenbrecher wie Markus Rhein auszahlte, damit sie ihn und seine Blutgeschäfte in Ruhe ließen. Silver, der das Gesicht abwandte, während Rivalen mundtot gemacht wurden, mit Geld oder auf die harte Tour.

Die Visionen verblaßten, und Hazel schaute Silver aus kalten Augen an.

»Nur ein paar Tropfen hin und wieder, für dich und ein paar besonders gute Freunde, wie? Scheiße! Du hast ein richtiges Drogengeschäft aufgezogen und überall in der Stadt deine Verteiler! Wie viele neue Plasmakinder gibt es inzwischen dort draußen, John? Wie viele Blutsüchtige liegen kalt und steif in leeren Zimmern, weil sie deine Preise nicht mehr zahlen konnten?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Silver. »Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Ich… ich schlage mich eben durch, wie jeder andere in Nebelhafen auch. Seit der Esperseuche haben wir eine irrsinnige Inflation . Das Geld ist mittlerweile noch nicht einmal mehr halb soviel wert wie zuvor. Meine gesamten Ersparnisse sind vor die Hunde gegangen. Würde ich es nicht tun, gäbe es jemand anderen. Das weißt du doch selbst, Hazel.

Ich wollte niemals irgend jemanden verletzen, aber…«

»Ja«, unterbrach ihn Hazel schroff. »Es gibt immer ein

›Aber‹. Nicht wahr, John?«

Silver trat einen Schritt vor und streckte die Hand nach ihr aus. Hazel ergriff sie, und Silver zuckte ob der rohen, unnachgiebigen Kraft in Hazels Fingern zusammen. Sie lächelte ihn kalt an. »Die Schau ist noch nicht vorüber, John. Du hast die Vergangenheit und die Gegenwart gesehen. Jetzt ist die Zukunft an der Reihe – ob du es nun willst oder nicht.«

Ihre Hand hielt die seine eisern umklammert. Silver schrie laut auf, als der Raum ringsum im Chaos verschwand. Menschen rannten schreiend durch die Straßen Nebelhafens. Häuser brannten. Imperiale Angriffsschlitten rasten durch den Himmel.

Energiestrahlen schossen durch heraufquellende Wolken aus schwarzem Rauch. Überall lagen Tote. Kriegsmaschinen rissen die Stadtmauern nieder. Brennende Barken trieben über einen blutroten Autumnusfluß voller Leichen – und über allem tönte ein nicht enden wollender Schrei, der nichts Menschliches mehr an sich hatte. Hazel ließ Silvers Hand los, und plötzlich befand er sich wieder in seinem Wohnzimmer mit dem gemütlichen Kaminfeuer. Silver wich einen Schritt zurück. Er zitterte am ganzen Leib. Sein Kopf war noch immer voll vom Gestank vergossenen Blutes und brennender Leichname, und der unheimliche Schrei klingelte noch immer in seinen Ohren. Hazel stand da und beobachtete ihn, kalt und erbarmungslos wie ein griechisches Orakel.