»Das ist die Zukunft, John«, sagte sie. »Deine Zukunft, und meine. Und du hast geholfen, sie so zu gestalten. Irgend etwas Böses ist auf dem Weg zur Nebelwelt. Etwas sehr, sehr Böses.
Und es dauert nicht mehr lange, bis es hier sein wird.«
Und dann plötzlich und ohne Vorwarnung war sie wieder nur noch Hazel, und die Aura von Macht und Erhabenheit, die sie umgeben hatte, war verschwunden. Sie sank in ihren Sessel am Feuer, und sie wirkte klein und erschöpft und äußerst verletzlich. Silver trat langsam vor und setzte sich in den Sessel ihr gegenüber. Ein Teil von ihm wäre nur allzu gerne schreiend aus dem Zimmer gerannt, doch er konnte nicht. Ein Teil von ihm war zu Tode erschrocken und der Panik nah, voller Angst vor dem unheimlichen Wesen, zu dem seine alte Freundin Hazel geworden war, aber er durfte es nicht zeigen . Sie brauchte ihn; sie brauchte ihren alten Freund und Kameraden, und trotz der vielen Schlechtigkeiten , die er zu verantworten hatte – für einige davon schämte er sich tatsächlich –, wollte John Silver verdammt sein, wenn er Hazel jetzt im Stich lassen würde.
Lange Zeit saßen sie schweigend beieinander, und das einzige Geräusch im Zimmer war das Knistern und Knacken des Kaminfeuers. Trotz der lodernden Flammen war es plötzlich ungemütlich kalt.
»Was ist mit dir geschehen?« fragte Silver schließlich. »Früher hattest du diese Kräfte jedenfalls nicht.«
Hazel grinste erschöpft. »Was ist mit dir geschehen, John?
Was ist aus den Menschen geworden, die wir einst waren?«
»Früher, als wir noch jung waren, war alles viel einfacher«, erwiderte Silver und starrte ins Feuer, weil es ihm leichter fiel, als Hazel in die Augen zu schauen. »Du warst Söldner; ich war Pirat, und wir waren beide davon überzeugt, zu Großem bestimmt zu sein. Wir waren ein großartiges Trickbetrügerduo.
Drei Jahre ohne Pause zogen wir den Engel-der-Nacht-Schwindel ab, erinnerst du dich? Obwohl ich persönlich den Sternentor-Trick besser fand. Ich hatte viel Spaß beim Zeichnen der Karten. Sie waren so beeindruckend, richtige kleine Kunstwerke. Hätte uns nicht unser Glück verlassen, würden wir heute noch die gleiche Show abziehen.«
»Wir wurden zu gierig«, warf Hazel ein.
»Das auch.«
»Die Dinge waren wirklich einfacher. Das stimmt. Es hieß, wir gegen sie, und wir haben nur diejenigen um ihr Geld erleichtert, die es sich leisten konnten. Eine einfache, unschuldige Zeit. Aber sie ging vorüber, und wir haben uns verändert.
Wir sind nicht mehr das, was wir einmal waren, John. Unsere Freunde sind nicht mehr die gleichen, und unsere Interessen ebenfalls nicht. Wir haben nichts mehr gemeinsam bis auf unsere Erinnerungen und das Blut. Und keins von beidem tröstet mich auch nur halb soviel wie früher. Können wir uns gegenseitig überhaupt noch vertrauen, John?«
»Das müssen wir wohl«, entgegnete Silver. »Weil es niemand sonst tut.«
»Owen schon«, widersprach Hazel.
Silver riß sich vom Anblick des Kaminfeuers los und blickte ihr in die Augen. »Du kennst ihn besser als ich«, sagte er. »Wie ist er in Wirklichkeit, dieser Owen Todtsteltzer?«
»Er ist ein guter Mann, obwohl es ihm nicht bewußt ist . Ein richtiger Held, wie er im Buche steht . Tapfer und hingebungs-voll und viel zu verdammt ehrlich, als gut für ihn wäre. Früher oder später wird er diese Rebellion ganz allein anführen. Nicht, weil er sich danach drängt, sondern weil er der verdammt noch mal beste Mann für die Aufgabe ist. Owen ist ein netter Kerl; aber es gibt so vieles, das er nicht versteht; zum Beispiel der Druck von Verantwortung und die Unsicherheit, die weniger vollkommene Menschen wie dich und mich dazu bringt, Blut zu trinken oder rein oberflächliche Beziehungen zu unterhalten.
Owen hat in seinem ganzen Leben noch nie eine Krücke gebraucht, auf die er sich hätte stützen müssen. Er erkennt, was richtig ist, und er macht genau das, obwohl er sich die ganze Zeit über beschwert und jammert. Aber damit täuscht er niemanden. Owen ist ein aufrechter Mann in einer miesen Zeit.«
»Du liebst ihn, nicht wahr?« fragte Silver.
»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Hazel.
Silver wußte, was als nächstes kommen würde. Er beugte sich vor, bis ihre Gesichter nur noch wenige Zoll voneinander entfernt waren – und dann küßte er Hazel, und beide wußten, daß es ein Abschied war. Und genau in diesem Augenblick betrat Owen Todtsteltzer das Zimmer und sah sie beide zusammen. Er blieb mitten im Eingang stehen und schwieg, während Hazel und Silver sich hastig voneinander lösten und auf-sprangen. Einen langen Augenblick sagte niemand ein Wort.
Hazel atmete schwer; doch sie errötete nicht. Silver sah, wie Owens Hand zum Schwert an der Hüfte zuckte, sah die Kälte in Owens Augen und wußte, daß er dem Tod sehr nahe war – nicht, weil der Todtsteltzer eifersüchtig war, sondern weil das hier ein Geheimnis zuviel, ein Betrug zuviel gewesen war. Und dann glitten die Augen des Todtsteltzers zur der Phiole auf dem Tisch, und alles änderte sich. Owen wußte, was sich im Innern der Phiole befand, und was es zu bedeuten hatte. In seinem Geist kämpften Wut und endlose Müdigkeit miteinander.
»Das ist es also«, flüsterte er. »Kein Wunder, daß unsere mentale Verbindung so schlecht war, mit all diesem Dreck in deinem Kopf, Hazel. Wie lange hängst du schon wieder dran?«
»Eine ganze Weile.«
»Woher hattest du es?«
»Von den Hadenmännern. Sie waren sehr verständnisvoll.«
Hazels Stimme schwankte zwischen Trotz und Flehen um Verständnis. »Ich brauche es, Owen.«
»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Weil ich wußte, wie du reagieren würdest! Du hast keine Ahnung, unter welchem Druck ich stehe!«
»Wir waren von Anfang an zusammen! Was hast du durchgemacht, was ich nicht durchgemacht habe? Verdammt noch mal, Hazel, ich hatte mich auf dich verlassen und darauf, daß du deine Aufgabe in Nebelhafen erfüllst! Ich kann nicht alles allein machen! Unsere Arbeit hier ist wichtig!«
»Das weiß ich selbst!« Hazel funkelte ihn an. Sie ballte die Fäuste, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Du verläßt dich auf mich. Der Untergrund verläßt sich auf mich. Die ganze verdammte Rebellion verläßt sich auf mich! Ist denn niemandem von euch in den Sinn gekommen, daß ich es satt haben könnte, soviel Verantwortung zu tragen? Wir sind nicht alle Übermenschen so wie du, Todtsteltzer! Nicht jeder von uns ist zum Helden geboren! Du hast wahrscheinlich in deinem ganzen Leben nicht ein einziges Mal gezögert oder geschwankt, stimmt’s? Du hast immer gewußt, was richtig ist und was falsch. Aber wir anderen, wir sind nicht so vollkommen!«
»Ich bin nicht vollkommen«, erwiderte Owen . »Ich tue nur meine Arbeit, und von dir habe ich das gleiche erwartet, Hazel.«
»Du hörst mir nicht zu!« fauchte Hazel. »Du hast mir noch nie zugehört!«
»Warum hast du mir nie etwas von Silver und dir erzählt?«
»Weil es dich einfach nichts angeht!«
»Du hast auch nie über Blut gesprochen. Was hast du mir sonst noch alles verschwiegen, Hazel? Ich habe wirklich geglaubt, ich könnte wenigstens dir vertrauen, Hazel.«
»Siehst du? Du machst es schon wieder! Du versuchst schon wieder, alles auf mich abzuwälzen, damit du hinterher als Opfer dastehen kannst! Zur Hölle damit, Todtsteltzer! Zur Hölle mit dir! Ich bin es leid! Ich will einfach nicht mehr! Ich habe es satt, das Gewicht deiner Erwartungen auf den Schultern zu tragen! Und ich kann deine Gegenwart nicht mehr ertragen…!«