Ihr seid kein Mensch!«
»Nicht mehr«, bestätigte Owen. »Nicht mehr. Und jetzt haltet den Mund, und sterbt wie ein Mann.«
Ein dritter Blitz krachte aus den Sturmwolken herab, und der Esper war tot. Genau in diesem Augenblick strömte aus allen Richtungen eine kleine Armee schwerbewaffneter Männer in die Straße. Sie beeilten sich, den Todtsteltzer zu umzingeln und ihm sämtliche Fluchtwege abzuschneiden. Sie wirkten grimmig und entschlossen, und sie erweckten den Eindruck, als verstünden sie ihr Geschäft. Owen war beeindruckt.
Es waren wenigstens hundert. Neeson und seine Geschäftspartner schienen jeden Unterschlupf der Stadt abgegrast haben, um in so kurzer Zeit eine derartige Streitmacht aufzustellen.
Owen saß in der Falle, und er wußte es. Er hatte seine neuen mentalen Fähigkeiten bis an ihre Grenzen beansprucht, um sich von der Illusion zu befreien und anschließend die drei Blitze zu produzieren, und nun hatte er nicht mehr die Kraft, weitere Blitze zu beschwören. Er hatte einen harten Tag hinter sich: Das Schwert lag schwer in seiner Hand; er war todmüde, und sämtliche Knochen taten ihm weh. Und nichts von alledem spielte eine Rolle. Er war Owen Todtsteltzer, und er war wütend wie die Hölle. Die Angreifer kamen ihm gerade recht, um sich abzureagieren.
Plötzlich fiel ihm die Prophezeiung des jungen Espers wieder ein, daß er alleine in den Straßen Nebelhafens sterben, und daß er ohne Freunde einer unmöglichen Übermacht gegenüberstehen würde. Owen lachte lauthals auf, und einige der Männer erschauerten beim dunklen Klang seiner Stimme. Es war das Lachen eines Mannes, der nichts mehr zu verlieren hatte. Owen Todtsteltzer hob das Schwert, grinste sein berüchtigtes Totenkopfgrinsen und fiel in den Zorn. Er brüllte den Kriegsruf seiner Familie: »Shandrakor!« und stürzte sich auf seine Feinde.
Sie drängten von allen Seiten heran, und dann gab es nur noch das Klirren von Stahl auf Stahl.
Es war ein Gemetzel. Blut floß in breiten Strömen über das Kopfsteinpflaster, und am Ende… Owen stand triumphierend inmitten eines großen Berges aus Sterbenden und Toten. Er blutete aus zahllosen Wunden, doch er war unbezwungen und lachte laut den wenigen Söldnern hinterher, die noch rechtzeitig die Flucht ergriffen hatten.
Soviel zu der verdammten Prophezeiung.
Er beendete den Zorn und fühlte sich augenblicklich vollkommen erschöpft. Allein der Schock verhinderte, daß er die Schmerzen seiner Wunden spürte; doch Owen wußte, daß er sich möglichst bald hinlegen und ausruhen mußte, damit das Vermächtnis des Labyrinths des Wahnsinns ihn heilen konnte.
Er durfte nicht auf der Straße ohnmächtig werden; das schadete nur dem Ruf. Also steckte er das Schwert mit halbwegs sicherer Hand in die Scheide zurück und wandte sich einmal mehr dem Eingang der Schwarzdorn-Taverne zu und dem Zimmer, das er dort gemietet hatte. Mitten in der Drehung verharrte er.
Hazel und Silver waren ihm wieder eingefallen. Er wollte sie nicht wiedersehen. Ja, er wollte noch nicht einmal in ihrer Nähe sein. Doch am Ende ging er trotzdem hinein und die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Er wußte nicht, wohin er sonst hätte gehen sollen.
Der Imperiale Sternenkreuzer Herausforderung kam aus dem Hyperraum und steuerte in einen Orbit um die Nebelwelt. In seinem Privatquartier wartete Kapitän Bartek, auch bekannt als Bartek der Schlächter, gespannt auf eine Reaktion der Welt unter ihm. Seit Typhus-Marie waren die überlebenden Esper der Nebelwelt dazu übergegangen, jedes Imperiale Schiff im gleichen Augenblick anzugreifen, da es aus dem Hyperraum fiel. Doch die Sekunden verstrichen, und nichts geschah.
Schließlich entspannte sich Bartek ein wenig. Die neuen Schilde funktionierten offenbar. Theoretisch war kein Esper und auch keine Gruppe von Espern imstande, die Anwesenheit der Herausforderung zu entdecken; doch sie hatten keine Zeit gehabt, die Schilde im Vorfeld zu testen.
Natürlich nicht.
Kapitän Bartek erhob sich aus seinem üppig dimensionierten Sessel und durchquerte ohne Eile sein Quartier, ein großer, schwerer Mann mit langsamen, kontrollierten Bewegungen, kalt und berechnend. Bartek hielt nichts von Emotionen. Sie standen ihm nur im Weg, wenn es um Pflichterfüllung und Effizienz ging. Sein Quartier war groß und komfortabel und wurde von Pflanzen beherrscht, die sämtliche Wände bedeckten und sogar von der Decke herabhingen. Reben, Blumen und Dornenbüsche wuchsen wirr durcheinander und kämpften um Raum. Riesige Blüten wetteiferten mit merkwürdigen Gewächsen von Hunderten fremdartiger Welten, und alle wurden sie durch ein kompliziertes hydroponisches System am Leben erhalten . Die Pflanzen erfüllten die Luft mit einem schweren, schwülstigen Duft, den allein Bartek als erträglich empfand. Er zog die Gesellschaft von Pflanzen der von Menschen vor. Bei Pflanzen wußte er, woran er war – nicht zuletzt deswegen, weil Pflanzen durchschaubar waren und nicht widersprachen. Außerdem empfand er die leuchtenden Farben und reichen Düfte als angenehm beruhigend – besonders da er eine Position innehatte, in der er niemals ausspannen und niemals irgend jemandem vertrauen durfte. Er verließ sein Privatquartier nur, wenn es absolut unumgänglich war.
Bartek hatte den Befehl erhalten, die Nebelwelt wieder ins Imperium einzugliedern. Das war eine Ehre, soviel stand fest, aber eine verdammt gefährliche. Bestimmt hatte sich außer ihm niemand freiwillig gemeldet. Sein letzter Auftrag war die Blockade des Planeten Grendel gewesen, wo er die Gewölbe der Schläfer bewacht hatte. Seine sechs Sternenkreuzer hatten die Quarantäne über dem Planeten jahrelang ohne den geringsten Zwischenfall aufrechterhalten, bis Kapitän Schwejksam von der Unerschrocken auf Befehl Ihrer Majestät auf Grendel gelandet war und herausgefunden hatte, daß die abtrünnigen KIs von Shub irgendwie eine Streitmacht an der Blockade vor-beigeschleust und die Gewölbe geplündert harten.
Selbst heute noch war es Bartek ein Rätsel, wie so etwas hatte geschehen können. Die Instrumente seines Schiffes und sämtliche Aufzeichnungen behaupteten hartnäckig, daß nichts seiner Aufmerksamkeit entgangen war. Auch die anderen Schiffe hatten nichts bemerkt.
Bartek und seine Besatzungen waren in Ungnade zurückgerufen worden, und bei ihrer Ankunft auf Golgatha waren alle, angefangen von Bartek bis hinunter zum einfachsten Besatzungsmitglied, in aller Gründlichkeit von Espern und Imperialen Hirntechs untersucht und verhört worden. Man war fest entschlossen, eine Antwort auf das Rätsel zu finden. Vergeblich. Sie fanden nicht den kleinsten Hinweis, obwohl ihre teilweise drastischen Methoden einige der schwächeren Besatzungsmitglieder das Leben gekostet und andere in den Wahnsinn getrieben hatten. Bartek erwachte noch immer mitten in der Nacht und zitterte am ganzen Leib wegen der Alpträume und der Erinnerung an die schrecklichen Dinge, die sie mit ihm angestellt hatten.
Am Ende hatte man ihn und die überlebenden Mitglieder der sechs Sternenkreuzerbesatzungen offiziell von aller Schuld freigesprochen. Umsonst, wie er rasch bemerkt hatte. Niemand vertraute ihnen mehr. Bartek machte den Leuten keinen Vorwurf daraus. Insgeheim befürchtete er selbst, daß Shub irgend etwas mit seinem Verstand angestellt und irgendwelche geheimen Kontrollworte und Befehle in sein Bewußtsein programmiert hatte, die so tief verborgen waren, daß nicht einmal die Hirntechs sie hatten finden können. Ganz ohne Zweifel waren auch andere auf diesen Gedanken gekommen, und so war Bartek nicht weiter überrascht gewesen, als er schließlich den Befehl erhalten hatte, zur Flottenakademie zurückzukehren und dort eine Stellung als Instrukteur anzutreten. Seine Karriere als Kommandant war damit beendet gewesen, und gleichzeitig war es den Geheimdiensten möglich, ihn unauffällig im Auge zu behalten.
Und dann war ein Aufruf gekommen. Freiwillige sollten sich melden, um die Nebelwelt zurückzuerobern. Es mußten Freiwillige sein. Jeder im Imperium wußte, daß es wahrscheinlich auf eine Selbstmordmission hinauslief. Bartek ergriff die Gelegenheit begierig beim Schopf. Selbstmordmission hin oder her, es war ihm egal. Wenn seine Imperatorin sagte, die Mission sei erfüllbar, dann reichte ihm das. Er sehnte sich verzweifelt nach einer Möglichkeit, seine Loyalität zu beweisen, um wieder in die Herde aufgenommen und rehabilitiert zu werden.