»Vollkommen klar, Kapitän«, antwortete Tobias. Er lächelte und nickte eifrig und beschloß insgeheim, Bartek stets so zu filmen, daß er plump und dumm wirkte. Tobias störte sich nicht im geringsten an Barteks Drohungen . Auf Technos III hatte man ihm so ziemlich das gleiche gesagt, und auch dort hatte es nichts genützt. Jeder halbwegs gute Reporter wußte, daß nur eins zählte: Soviel Material nach draußen und auf so zahlreiche Bildschirme zu schaffen, wie nur irgend möglich.
Später konnte man immer noch streiten, und zwar, wenn es für die Verantwortlichen zu spät war, irgend etwas dagegen zu unternehmen, ohne sich eine Blöße zu geben. Natürlich hatte Tobias bisher noch nicht unter Bartek dem Schlächter gearbeitet. Der Mann hatte eine unübersehbare Neigung, Probleme durch extreme Gewaltanwendung zu lösen.
»Kommt mit«, sagte Bartek unvermittelt. »Ich möchte, daß ihr euch etwas anseht.«
Er stapfte an ihnen vorbei und verließ sein Quartier. Die Tür hatte kaum genug Zeit, ihm aus den Füßen zu gleiten. Tobias und Flynn tauschten einen verwirrten Blick aus und beeilten sich, dem Kapitän zu folgen. Ffolkes rannte hilflos hinter ihnen her, wie üblich.
Bartek marschierte durch einen Korridor nach dem anderen.
Er ignorierte die militärischen Grüße seiner Mannschaft und stapfte tiefer und tiefer in einen Bereich des Schiffs, der für die beiden Reporter normalerweise absolut tabu war. Tobias spürte eine wachsende Aufregung. Seit sie an Bord gekommen waren, hatte er durch Bluff, Bestechung und Drohung versucht, sich Zutritt zu diesem Bereich zu verschaffen – ohne jeden Erfolg.
Jeder an Bord wußte, daß dort etwas Wichtiges versteckt wurde, eine Geheimwaffe für die Invasion; doch niemand wußte etwas Genaueres. Und wer doch mehr wußte, war entweder zu erfahren oder zu verängstigt, um den Mund aufzumachen. All das hatte Tobias’ Neugier zum Kochen gebracht. Und jetzt würde er endlich einen Blick darauf werfen können! Verstohlen gab er Flynn einen Wink, die Kamera einzuschalten. Das Gerät war mit Flynns Komm-Implantat verbunden und konnte aktiviert werden, ohne daß von außen etwas zu bemerken war – ein Trick, der sich schon bei mehr als einer Gelegenheit als nützlich erwiesen hatte.
Schließlich blieb Bartek vor einem massiven Schott stehen, die sich allein durch einen Esper öffnen ließ. Tobias konnte nichts anderes tun, als seine Ungeduld irgendwie im Zaum zu halten, bis der Esper auf der anderen Seite des Schotts den Kapitän identifiziert hatte. Ein rascher, unauffälliger Seitenblick auf Ffolkes’ nervöses, weißes Gesicht verriet Tobias, daß auch der Sicherheitsoffizier noch keinen Blick auf das geworfen hatte, was sich hinter der Tür verbarg. Andererseits schien er jedoch genug zu wissen, um es erst gar nicht sehen zu wollen.
Dann schwang das Schott endlich auf, und Bartek führte sie hinein. Tobias trat ihm beinahe in die Hacken.
Vor ihnen lag ein weites Rund, dessen Ränder gerippte Stahlwände bildeten. Den größten Teil des Saals nahm ein riesiger gläserner Tank ein. Die Seiten waren gut dreißig Fuß hoch und von beachtlicher Länge. Der Tank enthielt eine dicke, blaßgelbe Flüssigkeit, die unablässig wie zäher Sirup hin und her schwappte. Darin schwebte eine entsetzlich anzuschauende, gewaltige graue Fleischmasse, durchsetzt von technischen Im-plantaten, die durch zahllose Kabel und Drähte mit dem Tank und den Apparaten dahinter verbunden waren. Die Masse wogte formlos in ihrem Tank, eine krankhafte Ansammlung zu-sammengeklumpter organischer Materialien wie ein einziges gewaltiges Krebsgeschwür in einem Meer aus Eiter. Der Gestank war fürchterlich. Tobias verzog das Gesicht und trat zögernd vor. Das Gebilde faszinierte ihn. Hinter sich hörte er Ffolkes keuchen und würgen.
»Wunderbar, nicht wahr?« bemerkte Bartek. »Das wird das Geheimnis unseres Erfolges sein. Das entscheidende Element, das die Eroberung der Nebelwelt erst ermöglicht. Im Augenblick erzeugt es einen Schirm, der verhindert, daß die Esper der Nebelwelt und ihre Technologie uns entdecken. Es besitzt noch eine ganze Reihe anderer Fähigkeiten, die sich allerdings erst offenbaren werden, wenn unsere Invasion begonnen hat.«
»Was zur Hölle ist das?« fragte Tobias. »Ist es lebendig?«
»O ja, das ist es«, antwortete Bartek. »Ihr seht vor Euch die neueste Schöpfung Imperialer Biotechnologie. Imperiale Wissenschaftler exekutierten sämtliche Esper, die in Silo Neun gefangen waren. Alle, die den Ausbruchsversuch überlebt haben. Dann hat man ihre Gehirne herausgenommen und miteinander verbunden, um das große Konstrukt zu formen, das Ihr nun vor Euch seht. Tausende lebender Gehirne, verschmolzen zu einem einzigen riesigen Esperlektron, einem gigantischen ESP-Blocker und noch viel mehr. Er wird durch die Würmer kontrolliert, welche die Gefangenen früher in ihren Gehirnen hatten. Das Erbe des Wurmwächters. Sie sitzen in regelmäßigen Abständen im Hirngewebe und überwachen und steuern die Denkprozesse. Die Würmer haben ein primitives Über-Ich gebildet, das uns gestattet, direkt per Telepathie mit dem Konstrukt zu kommunizieren. Es nennt sich selbst Legion.«
»Die Esper-Bewußtseine…«, sagte Tobias langsam. »Leben sie… leben sie noch? Sind sie sich dessen bewußt, was man aus ihnen gemacht hat?«
Bartek zuckte die Schultern. »Das weiß niemand so genau.
Sie sind jetzt Bestandteil von etwas Größerem.«
Tobias trat langsam näher, bis er ganz dicht vor dem Glas des Tanks stand. Hinter sich spürte er Flynn, der unauffällig alles aufzeichnete. Das Entsetzen über die Verbrechen an Tausenden wehrloser Menschen verschlug Tobias für einen Augenblick die Sprache, doch er dachte bereits fieberhaft darüber nach, wie man dieses Ding den Zuschauern am besten präsentieren könn-te. Sie würden alles über diese… diese Abscheulichkeit wissen wollen, und er war der einzige, der darüber berichten konnte.
Er bemühte sich, nicht mehr daran zu denken. Emotionen durften einer guten Geschichte nicht im Weg stehen. Jeder Reporter wußte das.
»Warum heißt es Legion?« fragte er schließlich.
Ich bin Legion, weil ich Viele bin.
Die psionische Stimme klingelte in Tobias’ Gehirn wie die verrottenden Stimmbänder einer seit Monaten toten Leiche.
Sie brach in seine Gedanken ein und rollte sich darin zusammen wie eine Giftschlange, die sich zischend auf den Angriff vorbereitet. Es war eine erbarmungslose, brutale Invasion von Tobias’ Bewußtsein, und ihm wurde übel. Legions Gegenwart in seinem Kopf erzeugte ein Gefühl, als wäre er unrein. Verzweifelt kämpfte er um seine Selbstbeherrschung. Die Stimme fuhr fort:
Ich bin alles, was ich früher war, und mehr. Ich bin viel größer als die Summe meiner Teile. Kein Esper kann mir widerstehen. Ihr Schirm wird fallen, und ich werde ihre Gedanken fressen. Ich werde sie in mir aufnehmen, und die Nebelwelt wird in ihrem Blut und Leid ertrinken.
Legion sprach mit vielen Stimmen gleichzeitig. Es war ein entsetzlicher Chorus aufeinanderprallender Akzente, laut und leise, rauh und schrill, alles zugleich, eine unnatürliche Mischung, die schrecklich unmenschlich klang. Und im Hintergrund, wie das entfernte Rauschen eines Meeres, hallten die Schreie Tausender verdammter Seelen, die in der Hölle lebten.