»Wer… wer genau spricht da eigentlich zu mir?« erkundigte sich Tobias und klammerte sich an seine professionelle Distanz. »Die Hirne der Esper, die Würmer, das kollektive Be-wußtsein? Was?«
Doch Legion gab keine Antwort, und plötzlich war das Ding aus Tobias’ Verstand verschwunden. Er verspürte eine überwältigende Erleichterung. Tobias stolperte rückwärts. Er wollte Abstand zwischen sich und dieses schreckliche Ding im Tank bringen. Flynn war augenblicklich bei ihm und packte ihn stützend am Arm. Und schließlich war es zu Tobias’ Überraschung Ffolkes, der die Antworten auf seine Fragen lieferte. Der Sicherheitsoffizier sprach mit erschütterte, leiser Stimme.
»Wir wissen nicht, wer zu uns spricht. Wir glauben, daß Legion selbst nicht genau weiß, was es ist. Nur eines können wir mit Sicherheit sagen: Legion ist bewußt und wach, und es wird immer stärker. Es kann mit Leichtigkeit jeden psionischen Schirm zerstören, den die Nebelweltler gegen uns zu errichten imstande sind. Und ohne Schirm sind sie uns hilflos ausgelie-fert.«
»Und wie stark wird es noch?« fragte Tobias. Seine Stimme klang wieder ein wenig fester, nachdem Legion sich aus seinem Kopf zurückgezogen hatte.
»Das wissen wir nicht«, antwortete Bartek. »Aber macht Euch deswegen keine Gedanken. Rein physisch betrachtet ist Legion vollkommen hilflos. Es könnte nicht eine Sekunde außerhalb seines Tanks überleben. Ohne unsere technische Unterstützung und die chemische Nährlösung, in der es schwimmt, könnte es nicht existieren. Es ist von uns abhängig, und das weiß es.«
»Aber Ihr wißt immer noch nicht, was es ist!« sagte Flynn leise. »Und Ihr wißt auch nicht, wozu es imstande sein wird.«
»Ich sage Euch, was Legion ist« entgegnete Bartek und lächelte zum ersten Mal. »Legion ist eine Waffe. Legion ist eine Waffe, mit deren Hilfe ich die Nebelwelt ein für allemal vernichten werde.«
Einige Zeit später, Leutnant Ffolkes hatte Tobias und Flynn sicher zu ihrem Quartier zurückeskortiert, eilte er in einen anderen Bereich des Schiffs und klopfte verstohlen an eine Tür.
Er benutzte das geheime Zeichen, das man ihm gegeben hatte.
Die Tür öffnete sich fast im gleichen Augenblick, und er schlüpfte hinein. Er schwitzte, und seine Hände zitterten. Spezielle Lektronenschaltungen sollten seine Anwesenheit vor den Überwachungssystemen des Schiffs verbergen; doch er wußte nicht, ob sie wie beabsichtigt funktionierten oder nicht. Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, beruhigte er sich ein wenig. Er ruckte dem einzigen Bewohner des Raums zu, und Investigator Razor erwiderte seinen Gruß.
Razor war ein großer, schwerer Mann mit beeindruckenden Muskeln und einem ruhigen, nachdenklichen Gesicht. Seine Hautfarbe war dunkel, das kurzgeschnittene Haar weiß, und die eng beieinander stehenden Augen von einem überraschenden Grün. Der Investigator wirkte ruhig und gelassen; doch Ffolkes ließ sich dadurch nicht täuschen. Er wußte, daß Razor nicht freiwillig hier war. Der Investigator hatte ein ruhiges, zufriedenes Leben als Sicherheitschef des Chojiro-Clans geführt, bis die Imperatorin beschlossen hatte, Investigatoren nicht mehr zu gestatten, für die Familienclans zu arbeiten, egal ob im Ruhestand oder nicht. Statt dessen hatte sie sämtliche noch lebenden Investigatoren, gleichgültig, welchen Status sie innegehabt hatten, zurück unter direkte Imperiale Kontrolle gebracht. Unter dem Chojiro-Clan war Razor ein wohlhabender, einflußreicher Mann gewesen; jetzt war er nur noch ein einfacher Investigator, älter und vielleicht ein wenig langsamer als die meisten anderen . Aber die Eiserne Hexe persönlich hatte Investigator Razor für die Nebelwelt-Mission ausgesucht, und jetzt war er hier, obwohl er sich schon längst nichts mehr aus Selbst-mordmissionen machte.
Razor war auf die Herausforderung versetzt worden, weil er früher eng mit Investigator Topas zusammengearbeitet hatte.
Er war ihr Mentor und Lehrer gewesen in einer Zeit, als das Imperium sich noch nicht im klaren darüber gewesen war, ob ein Investigator mit Esperfähigkeiten eine gute Sache war oder nicht. Topas’ Fahnenflucht und die Tatsache, daß sie jetzt auf der Nebelwelt lebte, hatten diese Frage beantwortet. Man hatte Razor von aller Schuld freigesprochen, doch niemand hatte Einwände erhoben, als er um frühzeitigen Ruhestand nachge-sucht hatte.
Die Nebelwelt-Mission sollte eine zweite Chance für ihn sein: eine Chance, dem Imperium seinen Wert und seine Loyalität zu beweisen, indem er seine alten Bekanntschaft ausnutzte, um so nahe wie möglich an Topas heranzukommen. Und dann würde er Topas töten. Niemand hatte ihn gefragt, wie er sich bei diesem Gedanken fühlte. Imperiale Investigatoren durften keine Gefühle haben.
»Ihr bringt neue Befehle?« wandte er sich leise an Ffolkes.
»Ja«, antwortete der Sicherheitsoffizier und blickte sich unbehaglich in der spartanisch eingerichteten Kabine des Investigators um, da er dem kalten, unverwandten Blick Razors nicht standhalten konnte. »Ich werde Euer Kontaktmann zum Chojiro-Clan sein. Ich bin durch Heirat mit ihnen verwandt. Ich soll Euch ausrichten, daß man Euch nicht vergessen hat, und daß die Familie Euch für Eure Arbeit hier fürstlich belohnen wird.
Ich bin hier, um Euch über Kapitän Barteks Pläne zu informieren, sobald Legion den Esperschild überwunden hat.
Wir könnten hingehen und den Planeten aus dem Orbit her-aussengen, doch Ihre Imperiale Majestät hat beschlossen, die Nebelwelt einzunehmen und nicht zu zerstören. Zum einen, weil sie Esper noch immer als eine Waffe im bevorstehenden Krieg gegen die Fremden betrachtet, und zum anderen, weil sie beweisen will, daß niemand sie herausfordern und ungestraft davonkommen kann. Ihre Majestät wünscht, daß die Anführer der Rebellen in Ketten vorgeführt werden, damit jeder sehen kann, daß sie besiegt worden sind.
Also lauten Barteks Befehle: Systematische, aber nicht vollständige Zerstörung der Stadt Nebelhafen. Bis zu fünfzig Prozent Tote unter der Zivilbevölkerung werden als akzeptabel betrachtet. Die Stadt ist Straße um Straße einzunehmen, falls es notwendig sein sollte, auch im Häuserkampf.
Was das bedeutet, könnt Ihr Euch denken: Vollständiges Chaos und Verwirrung. Wir werden unseren Vorteil daraus ziehen. Sobald Ihr mit Investigator Topas und der Typhus-Marie fertig seid, werdet Ihr mit verschiedenen einflußreichen Bewohnern von Nebelhafen in Verbindung treten. Die Namen und Adressen habe ich hier auf einer Liste. Lernt sie auswendig und vernichtet die Liste anschließend.
Diese Leute waren einst Teil eines Spionagenetzes, das die Stadt überzogen und Informationen für den vorletzten Lord Todtsteltzer gesammelt hat. Seit seinem Tod hat sich eine Reihe von ihnen an den Chojiro-Clan gewandt . Sie bitten um Schutz und finanzielle Unterstützung. Mit Hilfe der Familie werden diese Leute nach der Einnahme der Nebelwelt die neue Verwaltung bilden. Euer Auftrag lautet, sie am Leben zu erhalten, bis die Kampfhandlungen vorüber sind.«
Razor nickte gelassen.
»Scheint nicht übermäßig schwierig zu werden. Habt Ihr vielleicht eine Idee, warum Chojiro die Kontrolle über diesen widerlichen Planeten erlangen will?«
»Ich stelle keine Fragen«, antwortete Ffolkes. »Auf diese Weise lebt man länger. Doch falls Ihr einen Rat haben wollt, würde ich sagen, daß die überlebenden Esper sowohl eine vorzügliche Einnahmequelle, als auch eine geheime Ressource darstellen. Der Chojiro-Clan plant weit in die Zukunft. Lebt wohl, Investigator. Ich hoffe, wir müssen uns nicht wiedersehen.«
»Ihr habt Furcht«, stellte Razor fest. »Ich kann es förmlich riechen. Wovor fürchtet Ihr Euch, Leutnant?«
»Ich weiß nicht, wovon ihr redet«, entgegnete Ffolkes. »Ich muß jetzt wirklich gehen. Man wird mich sonst vermissen.«
Und dann wurde er gegen die Wand geschleudert, und Razors Schwert war mit einemmal an seiner Kehle. Ffolkes schnappte nach Luft, und auf seiner Stirn bildeten sich dicke Schweißperlen. Er hatte noch niemals jemanden gesehen, der sich derart schnell bewegte . Razor brachte sein Gesicht dicht vor Ffolkes, und der Sicherheitsoffizier wagte noch nicht einmal, mit der Wimper zu zucken.