Der Rest der Stadt war enttäuschend langweilig. Am Lei-chenfeuer zog Kast eine Packung Marshmallows aus der Tasche . Die beiden setzten sich, um die Marshmallows am Feuer zu rösten, während sie fröhlich Erinnerungen an vergangene Feldzüge austauschten. Der Himmel wurde stetig dunkler, und das Feuer tauchte die verlassene, zerstörte Stadt in einen purpurnen Höllenglanz. Kast und Morgan saßen an ihrem gewaltigen Lagerfeuer und sangen Lieder über Kameradschaft, Gewalt und über verlorene Freunde, und schließlich marschierten sie grölend aus der brennenden Stadt. Die letzte der Pinassen wartete, um sie nach Nebelhafen zu bringen.
In Nebelhafen, im Abraxus-Informationszentrum, wachten alle Kinder gleichzeitig schreiend auf. Sie saßen kerzengerade auf ihren Pritschen, hatten die Münder weit aufgerissen und Blut und Tod in den Augen. Diejenigen, die an ihre Betten gebunden waren, kämpften verzweifelt gegen ihre Fesseln an. Chance lief aufgeschreckt zwischen ihnen umher und versuchte, diejenigen zu trösten, die sich trösten lassen wollten; doch der Todesschrei der vielen Esper in Hartsteinfels war zu stark und zu übermächtig, und er brach sich durch die Kehlen der Kinder seine Bahn.
Langsam, ganz langsam kehrte in einige von ihnen wieder so etwas wie Vernunft zurück. Den restlichen verabreichte Chance starke Sedativa, sobald er sich wieder halbwegs konzentrieren konnte. Von den anderen erfuhr er bruchstückhaft, was sich in Hartsteinfels zugetragen hatte.
Zum ersten Mal in vielen, vielen Jahren setzte er sich mit Direktor Stahl im Kontrollturm des Raumhafens in Verbindung.
Stahl nahm sich Zeit, bis er den Anruf beantwortete, und als sein fettes Gesicht schließlich auf dem Schirm erschien, wirkte er bei Chances Anblick alles andere als erfreut. »Macht es kurz. Die Hälfte meiner diensttuenden Esper ist anscheinend verrückt geworden, und der Rest ist in Katatonie verfallen . Wir haben ein heilloses Durcheinander. Was wollt Ihr, Chance?«
»Eine Imperiale Streitmacht hat vor wenigen Minuten Hartsteinfels dem Erdboden gleichgemacht«, kam Chance geradewegs zur Sache. »Es war eine große Armee, und sie ist in diesem Augenblick auf dem Weg hierher.«
Stahl runzelte die Stirn. »Seid Ihr sicher? Wir hatten keine Verbindung mit Hartsteinfels, und auf unseren Sensoren ist nichts zu sehen.«
»Die Stadt existiert nicht mehr«, erwiderte Chance. »Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind – alle tot. Das Imperium ist auf der Nebelwelt gelandet, Stahl! Ihr müßt etwas unternehmen!«
»Ich melde mich wieder.« Stahl schaltete den Kommlink aus und bellte Befehle. Er glaubte nicht recht an Chances Information – nicht zuletzt deshalb, weil er es nicht wollte –, doch er durfte kein Risiko eingehen. Er ließ die diensttuenden Esper ohrfeigen, bis sie sich wieder halbwegs beruhigt hatten, und befahl ihnen anschließend, mit ihren Bewußtseinen so weit nach draußen zu greifen wie nur irgend möglich. In der Zwischenzeit aktivierte das Turmpersonal die Langstreckensenso-ren. Schon nach wenigen Augenblicken entdeckten die Esper ein großes dunkles Nichts an der Stelle, wo sich die Stadt Hartsteinfels befinden sollte, ein Nichts, das sie nicht durchdringen konnten. Sie entdeckten auch noch etwas anderes: ein Wesen, groß und mächtig und hinter einer Abschirmung verborgen.
Hoch oben im Orbit um die Nebelwelt erkannte Legion, daß es entdeckt worden war. Endlich! Seine Zeit war gekommen, und jetzt konnte es tun, wozu man es geschaffen hatte: Terror und Verzweiflung über die Feinde des Imperiums bringen. Es ließ den Schild fallen und griff mit seiner unglaublichen Macht nach der Stadt Nebelhafen.
Die Sensoren des Raumhafens entdeckten das Imperiale Schiff im Orbit augenblicklich – und Hunderte von Pinassen auf der Oberfläche, mit Kurs auf Nebelhafen . Direktor Stahl hämmerte auf den Alarmknopf, während ringsherum Esper schrien und zusammenbrachen und sich auf dem Boden wanden, weil sie das Entsetzen nicht ertragen konnten, das Legion war. Das Turmpersonal gab sich alle Mühe, sie wieder zur Vernunft zu bringen; doch einige waren bereits tot, andere waren wahnsinnig geworden, und der Rest hatte sich so weit in sich selbst zurückgezogen, daß er unerreichbar war. Sie versteckten sich in ihrem eigenen Verstand. Stahl benutzte eine Notfrequenz und rief die Espervereinigung an. Es dauerte ewig, bis jemand seinen Ruf entgegennahm. Statische Entladungen huschten über den Schirm, und das Signal wurde unter Legions Einfluß schwächer und schwächer. Am Ende erschien ein Mann mit panischem Blick auf dem Schirm. Sein Gesicht war schweißnaß und voller Entsetzen.
»Schafft mir einen Verantwortlichen an den Schirm!« bellte Stahl. »Wir müssen unseren psionischen Schild errichten! Das ist ein Notfall!«
»Das wissen wir selbst«, antwortete der Esper auf der anderen Seite. Er verdrehte die Augen wie ein durchgehendes Pferd.
»Das Imperium ist hier! Wir können nichts dagegen tun! Es ist, als würde ein gigantischer ESP-Blocker die gesamte Stadt lahm-legen . Unsere Fähigkeiten sind nutzlos. Wir können uns nicht einmal mehr hören. Die Hälfte unserer Leute ist in Katatonie gefallen, um nicht ganz wahnsinnig zu werden. Und das ist noch nicht alles: Dieses Blockerfeld wird von Minute zu Minute stärker! Wir können keinen psionischen Schirm errichten.«
Plötzlich schoß ein Blutschwall aus Nase und Ohren des Mannes. Er wirkte überrascht, wollte etwas sagen… dann verschwand sein Gesicht vom Schirm.
Stahl rief erneut an, doch niemand antwortete. Und dann erlosch der Bildschirm ganz. Alle Kommunikationsfrequenzen waren mit einem Schlag blockiert. Stahl und seine Leute wandten sämtliche Notfallprozeduren an und aktivierten Reserveag-gregate, doch keines davon wollte funktionieren. Stahl saß in seinem Kommandantensitz, umgeben von Chaos und Schreien.
Der psionische Schild war unten. Gegenwärtig wurden die Disruptorkanonen des Raumhafens hochgefahren, die Beute aus einem abgestürzten Raumschiff; aber ohne funktionierende Kommunikationsemrichtungen gab es keine Möglichkeit, die Waffen auf ein Ziel zu richten. Techniker arbeiteten fieberhaft daran, die Sensoren des Kontrollturms ins Kommunikationssystem einzuschleifen; allerdings wußte niemand, ob und wie lange das funktionieren würden. Schon jetzt versagten einige der schwächeren Aggregate ihren Dienst. Das unnatürliche Kraftfeld des Sternenkreuzer im Orbit war einfach zu stark.
Stahl rief ein Dutzend Läufer zusammen und schickte sie in die Stadt. Sie sollten die Wachen und die Miliz organisieren.
Noch während er seine Befehle erteilte, wußte er, daß es nicht reichen würde. Nebelhafen hatte sich schon zu lange auf seinen psionischen Schild verlassen. Unter dessen Schutz waren die Wachen weich geworden, und viele Jahre schon hatte niemand mehr die Miliz ernst genommen. Stahl grunzte. Die Einwohner Nebelhafens waren immer noch Kämpfer. Wenn sie in dieser Stadt überleben wollten, blieb ihnen auch gar nichts anderes übrig. Falls die Imperialen Kräfte glaubten, sie könnten einfach einmarschieren und die Stadt übernehmen, würden sie eine gewaltige Überraschung erleben.
Stahl richtete den Blick auf die verbliebenen Sensorschirme und die ständig steigende Zahl sich nähernder Pinassen, und das Blut gefror ihm in den Adern. Es waren Hunderte! Das dort war kein Kommandounternehmen mehr; das war eine ganze Armee! Die Invasion der Nebelwelt hatte begonnen!
Hoch oben im Orbit schwebte Legion in seinem Tank und streckte unsichtbare Hände nach den Espern der Nebelwelt aus, um mit dreckigen Fingern in ihren Bewußtseinen herumzusto-chern.
Legion war das Produkt aus Tausenden von Esperhirnen, gekreuzt mit kaum verstandenen Apparaturen, die der Technologie einer Fremdrasse nachgebaut worden waren. Selbst die Konstrukteure hatten nicht genau gewußt, was sie dort eigentlich erschufen.
Für den Augenblick befolgte Legion Befehle, weil es sich amüsierte; morgen war ein neuer Tag. Es sandte seine Macht aus, und Esper starben, weil ihre einfachen menschlichen Gehirne nicht imstande waren, dem Druck zu widerstehen. Andere zogen sich tief in sich selbst zurück und schalteten ihre Bewußtseine ab, um sich zu schützen. Einige tapfere Seelen versuchten, Legion zu sondieren – und wurden verrückt dabei, weil sie seine Natur nicht verstanden. Legion lachte nur und breitete seine psionische Macht in einer alles verschlingenden Woge über Nebelhafen aus; ein nicht enden wollender Schrei des Triumphs.