Tobias grinste. »Wo es einen Geldbeutel gibt, da gibt es auch einen Weg.«
In der Schwarzdorn-Taverne, mitten im Gewirr der Straßen und Gassen des Diebesviertels, bemühten sich Vertreter der Espervereinigung nach besten Kräften, auf dem laufenden zu bleiben. Ständig trafen neue Boten mit Nachrichten aus allen Ecken der Stadt ein. Die Ratsmitglieder – ohne Albert Magnus – brüteten noch immer über der großen Karte von Nebelhafen.
Ihre Mienen wurden immer düsterer. Selten kamen gute Nachrichten.
Esper markierten die Positionen der Antigravbarken und Schlitten als kleine schwarze Schatten, die über der Karte schwebten. Fliegende Verteidiger wurden als hellrote Punkte dargestellt, die stets nach kurzer Zeit und ohne Vorwarnung verschwanden. Niemand mußte nach dem Grund dafür fragen.
An den Stadtgrenzen, wo die Imperialen Streitkräfte die Mauer eingerissen hatten, tauchten weitere Schatten auf. Sie bewegten sich unaufhaltsam auf das Zentrum zu, trotz der verzweifelten Anstrengungen der Verteidiger, sie aufzuhalten oder wenigstens den Vormarsch zu verlangsamen. Einzig und allein in der südwestlichen Ecke der Karte kamen die Schatten nicht voran, und nach und nach erreichten Neuigkeiten über einen unerwarteten Sieg den Rat.
Chances Kinder lagen zusammengekauert auf Decken in einer Ecke des Raums. Sie plapperten leise vor sich hin, während Chance zwischen ihnen umherging und sie versorgte. Er beruhigte die Kinder, gab ihnen hier und da Bonbons, und wenn er eines von ihnen zu lange vernachlässigte, neigte es dazu, in Alpträume zu versinken und laut und erbärmlich zu schreien oder zu weinen.
Die Repräsentanten der Espervereinigung gaben sich die größte Mühe, die Position des Schwarzdorns und der darin versammelten Menschen mittels ihrer überlegenen mentalen Fähigkeiten zu verschleiern; doch selbst ihre Macht reichte nicht aus, um die Kinder von Abraxus vor dem nicht enden wollenden, entsetzlichen Schrei Legions zu schützen. Es nagte an ihren Seelen wie ein Hund am Knochen. Niemand wußte, wie die Kinder es verkrafteten, doch der Ausdruck in ihren kleinen Gesichtern, ihr verzweifeltes Weinen und die ausgemergelten , verkrümmten Körper auf den schmutzigen Decken waren Antwort genug auf die nicht gestellte Frage. Chance flehte den Rat um Erlaubnis an, den Kindern Beruhigungsmittel verabreichen zu dürfen, doch er wurde immer und immer wieder abgewie-sen. Die Kinder wurden gebraucht.
Einige Esper teleportierten mit wichtigen Nachrichten herein und waren gleich wieder verschwunden, und die Luft strömte jedesmal mit einem Knall in das dabei entstehende Vakuum.
Statische Entladungen zuckten über die Körper der Esper und entluden sich schmerzhaft am nächsten Metall. Mit jedem Sprung riskierten sie ihr Leben. Legions Schrei störte sie in ihrer Konzentration. Einige verschwanden auf Nimmerwieder-sehen, nachdem sie sich entmateralisiert hatten. Manche kamen in Stücken in der Taverne an, andere entsetzlich verstümmelt.
Einer hatte sich halb in der Wand materialisiert. Er war noch immer dort. Niemand wußte, wie man ihn befreien konnte, ohne die Wand einzureißen. Zum Glück war er bereits tot, also legte man lediglich ein Tuch über sein Gesicht, um das Starren der blinden Augen und den verzerrten Mund zu verbergen, und ignorierte ihn.
Ein Mann materialisierte mitten in der Luft und krachte in einem Gewirr heraushängender Eingeweide zu Boden. Sein Sprung hatte ihn von innen nach außen gestülpt. Zum Entsetzen aller schien er nicht einmal sterben zu wollen. Donald Royal schlug ihm mit einem erlösenden Hieb den Kopf ab.
Die Ratsmitglieder und die Repräsentanten der Espervereinigung bemühten sich nach Kräften, eine planvolle Verteidigung auf die Beine zu stellen, doch alles geschah so rasch, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als auf die Aktionen des Imperiums zu reagieren und Schadensbegrenzung zu betreiben. Nach und nach wurden alle heiser vom ständigen Brüllen, und die Müdigkeit stand jedem ins Gesicht geschrieben. Cyder sorgte da-für, daß stets frischer Kaffee und heißes Würzbier bereitstand und leitete alles an Informationen weiter, was sie von ihren eigenen Verbindungsleuten hereinbekam. Sie bemühte sich, nicht an Katze zu denken und was aus ihm geworden sein mochte. Über ihr ließ das Donnern vorbeifliegender Barken die Taverne in den Grundmauern erzittern. Die Imperialen hatten keine Ahnung, wie nah sie dem Zentrum des Rebellenwider-stands gekommen waren.
Kast und Morgan zerrten ihren Gefangenen durch das Chaos der Schlacht zu Investigator Razor, der gedankenverloren in den Trümmern dessen stand, was einmal die nordöstliche Stadtbefe-stigung gewesen war. Er beobachtete, wie seine Truppen tiefer und tiefer in die brennende Stadt vordrangen und jeden Widerstand erstickten. Razor wartete, bis die beiden Marineinfanteristen mit ihrem Gefangen auf Armeslänge an ihn herangekommen waren, bevor er sich zu ihnen umwandte und ihre Anwesenheit zur Kenntnis nahm. Sein düsteres Gesicht war gelassen wie immer, doch in seinen Augen brannte ein brutales Feuer, das selbst zwei so hartgesottene Burschen wie Kast und Morgan einen Schauder über den Rücken jagte. Sie verbeugten sich hastig vor dem Investigator und schlugen ihren Gefangenen, bis er es ihnen gleichtat. Schweigend betrachtete Razor den Mann eine Weile. Der Gefangene war gut gekleidet, obwohl seine Kleidung im Augenblick zerrissen und schmutzig und mit seinem eigenen Blut besudelt war. Sein Gesicht war zerschlagen und geschwollen. Ganz offensichtlich hatten Kast und Morgan ihn nicht gerade mit Samthandschuhen angepackt.
»Und wen haben wir da?« erkundigte sich Razor.
»Einen Verräter und Informanten, Sir«, meldete Kast fröhlich. »Sein Name lautet Artemis Daley. Er behauptet, jemand zu sein, der in Nebelhafen die Fäden zieht. Er hat versprochen, uns mit nützlichen Informationen zu versorgen, wenn wir die Gebäude und Grundstücke in Frieden lassen, die ihm gehören oder an denen er interessiert ist. Er hat sich sogar bereit erklärt, uns eine Karte mit diesen Besitztümern zu zeichnen. Ist das nicht äußerst hilfreich? Unter einem gewissen Druck hat er sich dann auch noch erboten, uns eine weitere Karte zu zeichnen, die uns ganz genau zeigt, wo der Rat von Nebelhafen sich gegenwärtig versteckt hält. Als Gegenleistung für sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit, sozusagen . Also haben wir ihn zu Euch gebracht, Sir . Wenn er ist, wer er zu sein behauptet, und wenn er weiß, was er zu wissen behauptet, dann könnte er tatsächlich nützlich sein. Und bevor Ihr darüber nachdenkt, Sir, meinen Freund hier und mich zu belobigen oder uns wo-möglich sogar zu befördern, dann möchten wir sagen, daß wir nur unsere Pflicht getan haben, Sir.«
»Aber die Gehaltserhöhung würden wir trotzdem nehmen, Sir«, fügte Morgan hinzu. »Oder einen Orden, falls welche verliehen werden.«
»Ihr habt Euch wacker geschlagen«, lobte Razor. »Und jetzt schweigt.« Er wandte sich an den Gefangenen, und ein schwaches Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Der Gefangene wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch nervöser als zuvor. Razor trat näher. »Ich kenne Euch, Artemis Daley. Ihr seid in den Akten. Ihr macht alle möglichen Geschäfte – egal ob illegal oder nicht. Ein mittelgroßer Fisch in einem ziemlich kleinen Teich.
Ihr habt uns in der Vergangenheit die eine oder andere Information verkauft . Nichts von wirklicher Bedeutung, trotzdem ausreichend, um Euch zu einem von uns zu machen. Also, redet, Artemis. Verratet mir, wo sich meine Feinde verstecken.«
»Wir… wir müssen uns noch über den Preis verständigen, Euer Ehren«, stammelte Daley. Er hatte Mühe, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Ich bin schließlich ein ehrenwerter Geschäftsmann, der nur versucht, in schweren Zeiten einen kleinen Profit herauszuschlagen. Ich habe kein Interesse am Krieg, Sir. Trotzdem darf ein Mann in meiner Position sich nicht dazu hinreißen lassen, wertvolle Informationen einfach so wegzugeben . Es könnte publik werden. Mein Ruf wäre ruiniert.