Ich bin sicher, Ihr versteht, was ich meine.«
»Ich verstehe genau, was Ihr meint«, entgegnete Razor. Er warf einen Blick zu Kast. »Bringt ihn um.«
»Wartet! Wartet!« Daley wollte zurückweichen, doch Kast und Morgan hatten ihn sicher im Griff. Sie zwangen ihn auf die Knie. Daley zitterte so heftig, daß Schweißtropfen von seiner Stirn in den Schnee fielen. »Wartet, Euer Ehren! Erlaubt mir, Euch… eine kleine Kleinigkeit als Zeichen meines guten Willens zu geben. Der Rat… Ihr findet ihn im Diebesviertel. Er versteckt sich in der Schwarzdorn-Taverne.« Er blickte Razor hoffnungsvoll an. »Ich würde Euch mit Freuden eine Karte zeichnen, Euer Ehren, aus der ersichtlich wird, wo genau diese Taverne zu finden ist, aber es ist ein wenig schwer zu zeichnen, wenn man auf den Knien rutschen muß…«
»Wir besitzen unsere eigenen Karten«, unterbrach ihn Razor.
»Außerdem haben wir alles, was wir von Euch wollten.« Er nickte Kast und Morgan zu. »Statuiert ein Exempel an diesem Verräter.«
Kast und Morgan nickten fröhlich und zerrten Daley davon.
Daley trat und zappelte, aber das verlangsamte den Schritt der beiden Soldaten noch nicht einmal. »Das könnt Ihr doch nicht machen! Ich bin ein wichtiger Mann in Nebelhafen! Ich habe Euch doch alles gesagt, was Ihr wissen wolltet! Ich habe Euch alles…«
Er brüllte weiter, bis Morgan ihm den Knauf seiner Waffe über den Schädel zog, und selbst dann noch murmelte er leise Proteste.
Erst als Kast und Morgan ihn am nächsten Laternenmast aufhängten, verstummte er. Sie traten zurück und sahen zu, wie Daley an seinem Strick zappelte. Razors Lächeln war bitter. Er hatte keine Zeit für Verräter. Er beobachtete geduldig, wie der Mann starb und fragte sich, wie lange es wohl noch dauern mochte , bis die Agenten des Chojiro-Clans endlich mit ihm Kontakt aufnehmen würden.
Die Menschen im Schwarzdorn bemerkten erst , daß das Imperium ihr Versteck gefunden hatte, als Disruptorstrahlen von den Antigravbarken direkt über ihnen herabhämmerten. Das Schieferdach flog auseinander, und das Obergeschoß der Taverne verwandelte sich von einem Augenblick zum andern in eine Flammenhölle , die sämtliche Zimmer erfaßte. Die wenigen, die sich dort oben aufhielten, verbrannten bei lebendigem Leib. Die Energiestrahlen fraßen sich in den Boden und erreichten schließlich den darunterliegenden Schankraum, wo sie von einem psionischen Schild abgelenkt wurden, den die Esper darin buchstäblich in allerletzter Sekunde errichtet hatten.
Chances Kinder hatten unmittelbar vor Beginn des Angriffs eine Warnung ausgestoßen . Die Esper im Schwarzdorn gehörten zu den stärksten Begabungen ganz Nebelhafens . Gemeinsam wehrten sie den Beschuß der Disruptorkanonen ab; aber selbst sie konnten den Schwarzdorn nicht vor der Vernichtung retten.
Die Balkendecke des Schankraums begann zu schwelen und färbte sich rasch schwarz. Das gesamte Haus erzitterte unter der Wucht des Beschusses. Steine zersprangen, und ein feiner Staub aus Mörtel rieselte herab. Schnell wurde es ungemütlich heiß. Die Esper konnten es nicht verhindern.
Sie waren vollauf damit beschäftigt, den Disruptorbeschuß abzuwehren.
Donald Royal bellte Befehle und organisierte die Leute. Er ließ die hintere Treppe mit Tischen und anderem Mobiliar ver-barrikadieren, für den Fall, daß die Flammen von oben durch die geschlossene Tür brechen sollten. Cyder schaffte Eimer mit Wasser heran, um plötzlich aufflackernde Brandherde bekämpfen zu können. Chances Kinder weinten und schrien jetzt beinahe ununterbrochen, doch er wagte nicht, ihnen Beruhigungsmittel zu geben. Vielleicht mußten sie schon bald um ihr Leben rennen.
Ein paar Leute drehten durch und rannten zum Ausgang.
Royal brüllte ihnen hinterher, doch sie wollten nicht hören. Sie rannten nach draußen – und wurden im gleichen Augenblick von Energiestrahlen zerrissen, da sie das Haus verließen.
Weitere Antigravbarken schwebten heran und verstärkten die ohnehin schon beeindruckende Feuerkraft der Imperialen Luft-einheiten über der Taverne. Jedes Haus rings um den Schwarzdorn war längst zu einem schwelenden Trümmerhaufen geworden. Tote Männer und Frauen lagen in den Straßen, die Leichen geschwärzt vom fortgesetzten Feuersturm.
Im Innern des Schwarzdorns brach ein dicker Holzbalken aus seinen Verankerungen unter der Decke und krachte wie ein Riesenhammer herab. Lois Barron wich nicht schnell genug aus und wurde unter dem Balken begraben. Blut sprudelte aus ihrem Mund, während sie mit schwachen Händen versuchte, den Balken zur Seite zu drücken. Es war offensichtlich, daß sie starb, und trotzdem bemühten sich die anderen verzweifelt, Lois zu befreien.
Schließlich rührte sie sich nicht mehr. Der Zwerg Castle saß neben der Toten und hielt ihre Hand. Er schien alles andere ringsum vergessen zu haben. McVey und Donald Royal blieb keine Zeit zum Trauern. Sie waren die letzten verbliebenen Angehörigen des Rats von Nebelhafen, und sie hatten viel zu tun. Wenn irgend jemand einen Ausweg aus dieser Falle finden konnte, dann sie.
In diesem Augenblick wurde der psionische Schild schwächer und zeigte erste Risse. Selbst die stärksten Esperbegabungen Nebelhafens hatten Schwierigkeiten, unter dem Einfluß von Legions fortwährendem Schrei in den Köpfen zu funktionieren. Ihre Kräfte verbrauchten sich, und das gleiche galt für ihre Körper. Blut lief ihnen aus Nasen und Ohren. Der unentwegte Ansturm des gewaltigsten ESP-Blockers, den das Imperium jemals geschaffen hatte, löschte ihre Bewußtseine Stück für Stück aus.
Die Risse im psionischen Schild wurden breiter. Dünne Energielanzen schossen durch die Decke des Schankraums und spießten hier und da Leute auf wie Insekten auf Nadeln. Und dann traf ein einzelner breiter Strahl den stärksten der Esper, und der Schild brach endgültig zusammen.
Im gleichen Augenblick wurde Johana Wahn aktiv. Sie errichtete den Schirm aufs neue. Sie hatte eigentlich gehofft, daß ihre Hilfe nicht nötig sein würde. Zweifellos würde Legion nun, da sie ihre Gegenwart enthüllt hatte, seine gesamte Aufmerksamkeit auf sie richten, und Johana war nicht ganz sicher, ob sie dieses unnatürliche Ding schlagen konnte. Trotzdem: Sie tat, was sie tun mußte, und sie nahm den gesamten Druck auf sich, während ringsherum ein Esper nach dem anderen zusammenbrach und starb. Bald schon war die Anspannung beinahe unerträglich. Trotz all ihrer Fähigkeiten war Johana Wahn kein wirklicher Gegner für die vielen Gehirne, aus denen Legion zusammengesetzt war. Falls sie und die anderen im Schankraum des Schwarzdorns überleben wollten, dann würde sie mehr sein müssen als nur Johana Wahn.
Und so griff sie in sich hinein, suchte nach der hell strahlenden Stelle, wo sie einst in der dunklen Zelle von Silo Neun von der Mater Mundi berührt worden war. Sie rief nach dem Überesper, Unserer Mutter Aller Seelen, er solle herbeikommen, um sich einmal mehr durch sie zu manifestieren, und um mit ihr als Werkzeug alle Esper Nebelhafens zu einem gewaltigen Kollektiv zu vereinen, das Legion und das verhaßte Imperium hinwegfegen würde. Sie rief, und niemand antwortete. Johana schrie, ein bitterer Schrei der Wut und Verzweiflung, der einen Augenblick lang sogar Legion übertönte. So weit Johanas Be-wußtsein auch reichte – sie fand nirgends eine Spur von Mater Mundi, sondern nur die hellen Funken der Esper von Nebelhafen, die einer nach dem anderen erloschen, und das gräßliche Ding, das sich Legion nannte und jetzt nach und nach seine gesamte Aufmerksamkeit auf Johana richtete. Die Mater Mundi hatte Johana Wahn verlassen.
Johana hielt trotzdem durch, getrieben von purer Willenskraft. Sie mußte durchhalten. So viele Menschen waren von ihr abhängig. Die kurze Begegnung mit Mater Mundi hatte Johana zu einem der stärksten Esper werden lassen, den das Imperium je gesehen hatte; doch selbst sie vermochte das Ding namens Legion lediglich aufzuhalten. Der Schmerz war beinahe unerträglich; aber Johana kämpfte weiter. Falls auch noch die letzten Mitglieder des Rates starben, würde jeglicher Widerstand rasch in sich zusammenbrechen, und das verhaßte Imperium hätte gewonnen.